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DEMOAUFRUF – Gemeinsam gegen Prekarität in der Wissenschaft

 

#IchbinHanna und #IchbinReyhan gehen auf die Straße!

 

Kundgebung gegen die geplante Neufassung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) 

 
Freitag, 24.03.2023, 10-13 Uhr 

Vor dem Bundesforschungsministerium (BMBF)

 Kapelle-Ufer 1, 10117 Berlin

ÖPNV: Berlin Hbf

 

Das wissenschaftliche System in Deutschland bereitet euch Sorgen? 

Ihr seid frustriert von Kettenbefristungen und beruflicher Unsicherheit? 

Ihr seid bereits im bestehenden System marginalisiert und verliert gerade die letzte Hoffnung, in der Wissenschaft weiter arbeiten zu können? 

Ihr seid verärgert darüber, dass die vorgeschlagene Reform des WissZeitVG die Situation nur noch schlimmer machen würde?

Wir treffen uns am Freitag um 10:00 Uhr vor dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), um uns für faire und gerechte Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft einzusetzen. 

 
Kommt und bringt Kolleg*innen, Kommiliton*innen und Freund*innen mit!

Es gibt eine neue Realität: nachdem das BMBF am vergangenen Freitag (17.3.23)  einen ersten Entwurf zur lange geforderten Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) vorgelegt hatte, verbreitete sich laute Kritik wie ein Lauffeuer. In einer bisher nicht dagewesenen Dynamik verständigten sich Mitglieder aller Berufsgruppen der Wissenschaft auf den sozialen Medien. Dies führte dazu, dass das Ministerium bereits 48h später zurück ruderte und den Vorschlag wieder an den Verhandlungstisch bringen will. Das zeigt: wir können viel erreichen, wenn wir uns zusammentun und uns für Veränderungen einsetzen! 

 

Lasst uns diesen ersten Erfolg nutzen, um eine echte Veränderung des Systems zu fordern! 

Für ein Ende der Prekarität, bessere Arbeitsbedingungen für alle Wissenschaftler*innen in Deutschland, und bessere Studienbedingungen!

Wir weigern uns, weiterhin hinzunehmen, dass sich Wissenschaftler*innen ohne Professur von einem Kurzzeitvertrag zum nächsten hangeln und fortlaufend umziehen müssen. Wir lassen uns nicht mehr erzählen, dass sich wissenschaftliche Leistung über das Einwerben von Forschungsgeldern definieren lässt, deren Vergabeverfahren Machtungleichheiten (re-)produzieren. Wir sind die Abhängigkeiten leid, die das Lehrstuhlsystem hervorbringt. Es ist inakzeptabel, dass gute Kolleg*innen reihenweise die Wissenschaft verlassen müssen – und dass es diejenigen, die strukturell benachteiligt sind, als erstes und am härtesten trifft. Studierende brauchen feste Ansprechpartner*innnen und Betreuer*innen und kein Personalkarussell. 

Wir sind Studierende, Doktorand*innen, Post-Docs und Professor*innen, die genug von den prekären Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft haben. Wir sind uns einig: der jüngste Vorschlag der Bundesregierung, das WisszeitVG zu novellieren, wird ein bereits dysfunktionales System noch weiter verschlechtern. In den letzten Jahren wurden fundierte Konzepte für Dauerstellen im Mittelbau neben der Professur und konkrete Vorschläge für den Abbau von Hierarchien erarbeitet. Diese müssen gemeinsam diskutiert und gegen die Interessen des Status Quo durchgesetzt werden. Als einzelne sind wir dem Systemfehler ausgeliefert, aber gemeinsam können wir das System ändern! 

 

Logistische Hinweise

Ordner*innen werden vor Ort an ihren weißen Binden zu erkennen sein, das Orga-Team trägt orangefarbene Westen. 

Toiletten für alle können im Futurium Museum nebenan kostenlos und barrierearm genutzt werden. 

Die Sprache der Redebeiträge wird Deutsch/ Englisch sein, wir bemühen uns um Flüsterübersetzung, bitte sprecht das Orga-Team vor Ort an.

 

**************************************************ENGLISHVersion*************************************************

 

Together against precarity in academia!

 

#IchbinHanna and #IchbinReyhan take to the streets!

 

Rally against the proposed reforms to the Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG)

 

Friday, 24.03.2023, 10am-1pm

In front of the Federal Ministry of Education and Research (BMBF)

Kapelle-Ufer 1, 10117 Berlin

Public transport: Berlin central station

 

Are you concerned about the current state of the academic system in Germany?

Are you frustrated by endless short-term contracts and professional precarity?

Do you experience marginalization in the existing system? 

Are you angry about the proposed reforms to the WissZeitVG?

We will meet on Friday at 10:00 am in front of the Federal Ministry of Education and Research (BMBF) to campaign for fair and just working conditions in academia.
 
Come and bring colleagues, fellow students and friends!
 

Following the release of the BMBF’s first draft of the long demanded reform of the Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) last Friday (17.3.23), loud criticism spread through social media channels like wildfire. In an unprecedented show of resistance, academics from all status groups united in protest against the proposed reforms on social media. In response the Ministry backpedaled just 48 hours later and declared they would take the proposal back to the negotiating table. This shows: we can make changes if we join forces and campaign for change!

 
Let’s build on this success and demand real change in the system!
 
For an end to precarity, marginalization, and for better working and educational conditions in  higher education in Germany!

We refuse to continue to accept that academics without professorships have to crawl from one short-term contract to the next and constantly be forced into casualization, flexibility, and nomadic working conditions. We will no longer allow ourselves to be told that academic work is measured by the acquisition of grant funding, the allocation of which(re)produces existing power inequalities. We are tired of dependency relationships created by the hierarchical chair system. It is unacceptable that good colleagues are forced out of the academic system in droves – and that those who are already structurally disadvantaged are hit first and hardest. Students need consistent and reliable faculty and supervisors.

We are students, PhD candidates, post-docs, and professors who have had enough of the precarious working conditions in academia. We agree: the recent proposal by the federal government to amend the WisszeitVG will make an already dysfunctional system even worse. In recent years, well-founded concepts for permanent mid-level positions alongside professorships and concrete proposals for reducing hierarchies have been developed. These must be discussed together and implemented against the interests of the status quo. As individuals we are at the mercy of the system failure, but together we can change the system!

 
Logistics

Stewards will be recognisable on site by their white armbands, the organising team will wear orange waistcoats.
Toilets for all can be used free of charge and barrier-free in the Futurium Museum next door.
The language of the speeches will be German/English, we will try to provide whisper translation, please contact the organising team on site.

Die deutschen Hochschulen behalten auch mit dieser geplanten Reform des WissZeitVG die Sonderlizenz, wissenschaftliches Personal für erhebliche Zeit befristet zu beschäftigen und dann stillschweigend zu entsorgen; sie werden darin nur unwesentlich stärker reglementiert als bisher. Promovierte Wissenschaftler*innen werden dagegen verstärkt unter Druck gesetzt. Das Kunststück, minimale Verbesserungen mit neuen Nachteilen zu verbinden, gelingt in der Einigung zum neuen Gesetz vor allem durch zwei Punkte: eine schwache Regel zu Vertragslaufzeiten vor der Promotion und eine halbherzig von sechs auf drei Jahre gesenkte Höchstbefristungsgrenze danach, ohne den Übergang in unbefristete Beschäftigung zu regeln.

Für Nichtpromovierte wird eine Mindestvertragslaufzeit für den Erstvertrag festgelegt, die allerdings nur drei Jahre beträgt (ca. zwei Drittel der Zeit, die Promotionen momentan durchschnittlich brauchen) und nur eine „Soll-Bestimmung“ darstellt. Das ist zu wenig für wissenschaftliche Qualifizierung, und es wird viele Promovierende gerade in der Endphase ihrer Arbeit in den Kampf um den Lebensunterhalt werfen. Wer die Promotion abgeschlossen hat und damit unbestreitbar für wissenschaftliche Arbeit qualifiziert ist, wird dann in eine neue Testphase geschickt, die mindestens zwei Jahre dauern muss und höchstens drei Jahre dauern darf. Das ist zu lange, um die Hochschulen zur regulären Beschäftigung ihres qualifizierten Personals zu zwingen oder den Beschäftigten einen klaren Bruch mit dem Wissenschaftsbetrieb zu ermöglichen – und es ist deutlich zu kurz, um sich wissenschaftlich zu entwickeln und die zahlreichen Leistungen zu erbringen, an denen das System dann Berufungsfähigkeit festmachen will. Als alternative Beschäftigungsoption bleiben nach wie vor nur Drittmittelprojekte, denen auch das neue Gesetz keinen Riegel vorschieben soll; sobald die Zeit der „Qualifizierungsbefristung“ ausgeschöpft ist, darf man sich hier weiter von Projekt zu Projekt hangeln. Der Druck auf die Individuen wird erhöht, die Einrichtungen können entspannt weiter sogenannten ‚Nachwuchs’ anheuern und feuern. Auch der Qualifizierungsbegriff bleibt wie bisher unbestimmt, weil er nicht konsequent auf die Promotion eingegrenzt ist. Als sarkastische Zusatzpointe bietet die Einigung eine Pseudo-Aufhebung der Tarifsperre an: Institutionen und Beschäftige sollen in einem schmalen Korridor über Regelungen verhandeln dürfen, die im Zweifelsfall auch zu Lasten der letzteren gehen – als Hauptbeispiel werden PostDoc-Verträge mit ein- oder dreijähriger Laufzeit genannt. Die Koalition und das BMBF haben es allen ein wenig recht machen wollen, besonders aber der Hochschulrektorenkonferenz; das Ergebnis ist ein unglücklicher Kompromiss und wird wenig am System prekärer Beschäftigung in der Wissenschaft ändern.

Liebe Mitgliedsinitiativen im NGAWiss, liebe Hochschulaktive, 
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im Mai 2022 haben wir unsere Evaluation des WissZeitVG veröffentlicht. Seit Sommer 2022 diskutieren Mitglieder des NGAWiss-Koordinationskreises und viele engagierte Einzelpersonen intensiv mit MdBs, Mitarbeiter:innen des BMBF, der HRK und anderen Akteur:innen, wie ein grundlegend novelliertes WissZeitVG aussehen sollte. Unsere Forderungen haben wir an vielen Stellen eingebracht, dabei haben unsere Argumentationshilfen einen wertvollen Beitrag geleistet!
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Seit Herbst 2022 warten wir auf den Referentenentwurf aus dem BMBF. Nun ist es bald so weit – der Entwurf zur Novelle wird zeitnah erwartet! 
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Leider können wir noch nicht sagen, ob es Mitte März oder später wird aber wenn der Entwurf da ist, dann sollten wir schnell reagieren! Folgt uns auf Twitter – wir werden den Entwurf zeitnah kommentieren!
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WAS KÖNNT IHR TUN?

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Für ein breites Medienecho brauchen wir bildwirksame Aktionen an vielen Standorten! 
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  • Schafft Bilder für Twitter & Mastodon!
    • sucht euch in einer kleinen/größeren Gruppe einen symbolischen Ort eurer Uni
    • nutzt zum Beispiel die Hanna-Masken und posiert an dem gewählten Ort
    • schreibt dazu kleine Stellungnahmen zur Novelle – zum Beispiel auch, was das Gesetz für euch und eure Kolleg:innen bedeutet
    • veröffentlicht die Bilder
    • Hashtags: #WissZeitVG #Novelle
    • pinnt uns dazu gern an:  Twitter: @NGA_Wiss; Mastodon: @NGAWiss@mstdn.social, @academicsunite
  • Schreibt für eine Aktion eure lokalen Pressevertreter:innen an, ladet sie zur Foto-Aktion ein und gebt ein Interview!
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…und sicher fallen euch noch mehr Aktionsformate ein!
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Für Fragen und Kooperationen stehen wir gern zur Verfügung!
Euer NGAWiss-Koordinationskreis 
mail@mittelbau.net

Plädoyer für eine Reform des Befristungsrechts

Erweiterung unseres Bündnisses zum „Gemeinsamen Statement“

 

Foto: Kay Herschelmann

alte Fassung des Statements (27. Juni 2022): hier
Fassung des neuen Statements (10. November 2022) als pdf: hier

Die Wissenschaft in Deutschland ist in einer Krise und merkt es nicht. Es ist eine Krise des verschwendeten Potenzials ‒ eine Krise, die auf Kosten derjenigen ausgetragen wird, die das System maßgeblich tragen: der Wissenschaftler:innen ohne Professur. Unsicherheit und Zukunftsängste, Stress und zugespitzte Abhängigkeitsverhältnisse prägen den Alltag von Wissenschaft als Beruf. Obwohl inzwischen der Großteil von Forschung und Lehre von Wissenschaftler:innen ohne Professur gestemmt wird, sind verlässliche Arbeitsverhältnisse und berechenbare Perspektiven in der Regel nur für verstetigte Professor:innen vorgesehen.

Wie produktiv könnte unsere Wissenschaft sein, wenn sie das Potenzial, das in unserem wissenschaftlichen Personal steckt, voll heben würde?

Wissenschaft ist nicht zuletzt Denkarbeit, Experimentieren und kritisches Hinterfragen. Doch das braucht Zeit ‒ und lässt sich mit Hektik und Zukunftsangst nur unter Qualitätsverlusten und Selbstausbeutung verbinden. Die Eigenheiten des akademischen Karriereweges betreffen dabei nicht alle gleich. Nach wie vor haben Machtverhältnisse anhand von Faktoren wie race, class, gender und abilty einen prägenden Einfluss auf Zugänge, Berufswege und Karrierechancen in der Wissenschaft.

Die Arbeitsverhältnisse der Promovierenden und Postdocs werden heute überwiegend nach dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) geregelt. Dieses Gesetz wurde 2016 novelliert und der Einfluss dieser Novelle auf die Arbeitsverhältnisse in mehreren publizierten Studien untersucht. Die Ergebnisse sind ernüchternd: Eine Trendwende hin zu mehr unbefristeten Arbeitsverhältnissen ist ausgeblieben, der Anteil der Kurzzeitverträge mit Laufzeiten von einem Jahr oder weniger wurde nicht nachhaltig reduziert. Qualifikationszeiten sind von den Vertragslaufzeiten nicht annähernd gedeckt. Die Instrumente des Nachteilsausgleichs entfalten keine verlässliche Wirkung. Die unterzeichnenden Organisationen sind deshalb überzeugt, dass jetzt eine mutige und grundlegende Reform des Sonderbefristungsrechts für die Wissenschaft notwendig ist.

Eckpunkte für mehr Planbarkeit und Chancengleichheit der Berufswege in der Wissenschaft:

  1. Der Qualifizierungsbegriff im WissZeitVG muss eng geführt und juristisch bindend definiert werden.
  2. Eine Anstellung zur Promotion kann eine Befristung begründen. Für andere Qualifizierungsziele als Begründung für eine befristete Beschäftigung sehen wir in dieser Phase keine Berechtigung.
  3. Mit dem Eintritt in die Postdoc-Phase sollte in der Regel ein unbefristeter Arbeitsvertrag oder zumindest ein planbares Verfahren zur Entfristung in der Wissenschaft verbunden sein. Beschäftigte, deren Arbeit von Daueraufgaben geprägt ist, müssen auf Dauerstellen beschäftigt werden.
  4. Vertragslaufzeiten müssen den angestrebten Qualifikationszielen entsprechen. Wie die Evaluationen eindrucksvoll zeigen, ist dies nicht der Fall: Mittlere effektive Vertragslaufzeiten bei Promovierenden von etwa 20 Monaten bei einer durchschnittlichen Promotionszeit von 4,7 Jahren (vgl. Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2021) zeigen, dass die WissZeitVG-Novelle von 2016, an ihren eigenen Zielen gemessen, gescheitert ist. Die durchschnittlichen Qualifizierungszeiten sollten daher fächerspezifisch regelmäßig erhoben werden, um auf dieser Grundlage verbindliche Vorgaben zu machen. Unverbindliche Gesetzesformulierungen sind offenkundig nicht ausreichend.
  5. Verlängerungen der Höchstbefristungsdauer (§ 2 Absatz 1 Sätze 4-6 WissZeitVG) führen, wie die Evaluation gezeigt hat, bisher kaum zu faktischen Vertragsverlängerungen und sollten als Rechtsansprüche der Beschäftigten neu ausgestaltet werden. Verlängerungsansprüche sollten hierbei für alle Beschäftigten zugänglich sein, die mit dem Ziel angestellt werden, eine Qualifizierung zu absolvieren.
  6. Die Tarifsperre muss aufgehoben werden. Nur beim Thema Befristung in der Wissenschaft ist den Sozialpartnern durch das Arbeitsrecht verboten, wesentliche Fragen der Arbeitsbedingungen tariflich zu regeln. Dies steht im eklatanten Widerspruch zum im Koalitionsvertrag verankerten Ziel der Bundesregierung, die Tarifautonomie zu stärken.

 

Unterzeichnende Organisationen:

bukof – Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen
DGB – Deutscher Gewerkschaftsbund
DGJ – Deutsche Gesellschaft für Juniorprofessur
fzs – freier zusammenschluss von student*innenschaften
GEW – Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
Helmholtz Juniors – Netzwerk der Promovierenden der Helmholtz Gemeinschaft
Leibniz PhD Network – Netzwerk der Promovierenden der Leibniz Gemeinschaft
NGAWiss – Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft
ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft
respect science – Verein für neue Anreize in der Wissenschaft

Kurzfassung:

Die Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes ist gescheitert!
Plädoyer für eine Reform des Befristungsrechts

Der Qualifizierungsbegriff muss eng geführt werden und die Vertragsdauer für Promovierende muss fachspezifisch mindestens der durchschnittlichen Promotionsdauer entsprechen. Nach Abschluss der Promotion soll ein unbefristeter Arbeitsvertrag oder zumindest ein planbares Verfahren zur Entfristung die Regel sein. Beschäftigte, deren Arbeit von Daueraufgaben geprägt ist, müssen auf Dauerstellen beschäftigt werden. Die Tarifsperre im Wissenschaftszeitvertragsgesetz muss aufgehoben werden.

 

 

 

 

 

 

 

Wie ein unausgegorener Importversuch die Befristungsmisere zu verlängern droht

Dies ist die Langfassung unseres Beitrags, der am 19.10.2022 in der FAZ erschienen ist.

Die deutsche Hochschulpolitik braucht zumeist lange, um auf erkannte Probleme zu reagieren, und bringt dann nicht selten Verschlechterungen hervor. Gegenwärtig droht eine (erneute) Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) ihr Ziel zu verfehlen. Die Reform soll den vom Gesetz begünstigten und in dieser Drastik weltweit einmaligen Missstand beheben, dass wissenschaftliche Laufbahnen in Deutschland gewöhnlich mit einer Serie von Zeitverträgen beginnen und regelmäßig ins Nichts führen, wenn der sogenannte Nachwuchs mit Anfang oder Mitte 40 fertig ‚qualifiziert‘ ist. Seine Mitglieder haben dann bereits jahrelang für die Hochschulen gearbeitet, erhalten aber mehrheitlich keine der knappen Professuren, die als einzige reguläre Dauerstelle verfügbar sind. Um das zu ändern, wurde vorgeschlagen, für promoviertes Personal Festanstellungen zur Regel zu machen – etwa von ver.di, der GEW, dem Promovierendennetzwerk N² und dem Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft. Größere Chancen könnte jedoch ein Modell haben, das die Probephase weiter verfestigen und bei unklugem Einsatz sogar verlängern würde: der ‚Tenure Track‘.

In den USA war der Tenure Track eingerichtet worden, um wissenschaftlichem Personal im Anschluss an die Promotion zunächst eine selbständige und dann eine unbefristete Stelle als Mitglied eines Departments anzubieten. Wer nach dem mehrjährigen ‚Track‘ eine positive Evaluierung erhält, wird vom Assistant Professor zum ‚Tenured‘ Associate Professor verstetigt; danach ist auch der Aufstieg zum besonders hoch angesehenen und gut bezahlten ‚Full Professor‘ möglich. Den Kern des Systems bildet nicht der Track, sondern die im Lauf des letzten Jahrhunderts erkämpfte und ausgeweitete Tenure-Stellung, die wissenschaftliche Unabhängigkeit gewährleisten soll. Die Hierarchien bleiben relativ flach, da Professuren anders als in Deutschland über keine weisungsgebundene ‚Ausstattung‘ von Mitarbeitenden verfügen. Über die Vorzüge und Nachteile dieses Modells kann man seriös diskutieren. Die aktuellen Aneignungen bleiben jedoch bei dem Hochglanzbegriff stehen, der internationale Anschluss- und Wettbewerbsfähigkeit verheißt. Sie blenden die Rahmenbedingungen und Probleme des Tenure-Track-Systems so umfassend aus, dass allenfalls eine mangelhafte Kopie zu erwarten ist.

Die Junge Akademie und die Hochschulrektorenkonferenz haben den befristeten ‚Track‘ jüngst als krönenden Abschluss vorheriger Bewährungsbefristung ins Spiel gebracht. Sie schlagen Laufbahnen vor, in denen der Promotion zunächst ein mehrjähriger befristeter Post-Doc-Abschnitt folgt; erst dann soll man sich um die erneute sechsjährige Bewährung im Tenure Track bewerben können. Die Befristungs- und Unsicherheitsphase nach der Promotion würde damit nicht verkürzt oder durch früher geklärte Bleibeperspektiven ersetzt, sondern um die Track-Phase verlängert. Eine Dauerstelle würden die meisten erst mit Mitte oder Ende 40 erreichen. Und während dies in bisherigen Initiativen immerhin eine Professur war, der eine Juniorprofessur vorangeht, will die Junge Akademie den langen Bewährungstrack auch vor bloßen unbefristeten Mitarbeitsstellen einsetzen. Wie sich solche Stellen zu den Professuren verhalten sollen, bleibt ebenso ungeklärt wie das Pendant zum unbefristet und eigenständig arbeitenden Associate Professor im US-Vorbild. Insgesamt sind die Vorschläge mit fast allen Defekten des heutigen Systems kompatibel: einer Befristungsquote von ca. 80% des wissenschaftlichen Personals, konzentrierter professoraler Macht und einer ‚Nachwuchs‘-Phase, die bis ins fünfte Lebensjahrzehnt reicht. Zugleich würde der potenziell kreative, produktive und selbständige Einstieg in die Wissenschaft endgültig in ein Dauer-Assessment umgebaut, das weit mehr als ein Drittel der wissenschaftlichen Laufbahn ausfüllt.

Das mit der Gesetzesnovelle befasste Bundesministerium hat sich zu diesen Vorschlägen noch nicht klar verhalten; mangels eigener Ideen scheint es für sie aber aufgeschlossen zu sein. Sie passen in jedem Fall zu den bislang verfolgten Strategien. Um Kompetenzstreit mit den Ländern zu vermeiden, bevorzugt die Bundes-Hochschulpolitik zeitlich befristete, kompetitiv angelegte Programme, und um für verbesserte wissenschaftliche Stellen keine allzu hohen Kosten zu riskieren, setzt sie auf die wenigen vorbehaltene Juniorprofessur. In dieser Linie steht auch das 2016 ins Leben gerufene Bund-Länder-Programm für 1000 neue Tenure-Track-Professuren. Hier können sich lediglich Universitäten bewerben, die ‚ihre Personalstrukturen überdenken wollen‘, ohne dass die Ausschreibung selbst neue Rahmenbedingungen in Aussicht stellt. Auch dieses Programm sieht eine befristete Postdoc-Phase vor dem Tenure Track vor, weil ein solcher Talentpool nun einmal vorhanden ist, und der neue Weg zur Professur wird betont als einer unter vielen, bereits bewährten dargestellt. Statt struktureller Neuerungen hat das Programm bisher eher Missbrauch angeregt. Wenn die zusätzlichen Tenure-Track-Positionen in bestehende Stellenpläne eingepasst werden, droht eine verkappte Umwidmung ohnehin auslaufender Professuren, und durch die lokal recht geringe Anzahl von Stellen sind mikropolitische Mauscheleien über deren Zuschnitt und Besetzung vorprogrammiert.

Ob ein konsequenterer Ansatz bessere Chancen hätte, ist unsicher. Auch ein flächendeckender Tenure Track würde die Jobsicherheit erst dann spürbar erhöhen, wenn er unmittelbar an die Promotion anschlösse. Diesen Anschluss stellt für Professuren etwa ein früheres Papier der Jungen Akademie und für nichtprofessorale Dauerstellen das Berliner Hochschulgesetz von 2021 in Aussicht. Die USA eignen sich allerdings nur begrenzt als Vorbild, da der Zeitpunkt des Tenure-Track-Antritts dort je nach Fachkultur stark variiert. Zugleich besteht in den USA traditionell eine Vielfalt unbefristeter, wenngleich selten gut abgesicherter wissenschaftlicher Stellen, die den Beteiligten Wahlmöglichkeiten lassen. Wer den Wettbewerb um Tenure-Track- und Tenure-Stellen vermeiden will oder nicht besteht, kann auch einen Job an einem staatlichen College oder als Research Assistant annehmen. Dieses Umfeld alternativer Jobs fehlt in Deutschland. einen sicheren.

Inzwischen hat die transatlantische Vorbildwahl insgesamt antizyklischen Charakter. Der Tenure Track wird in Deutschland zu einem Zeitpunkt als zukunftsweisende Neuerung verkauft, zu dem er in den USA längst ausgehöhlt ist und auch Tenure ein selten gewordenes Privileg darstellt. Seit mehreren Jahrzehnten werden die Tenure- und Tenure-Track-Professuren abgebaut, die ‚Adjunct‘-Positionen ohne verlässliches Gehalt dagegen vermehrt, begleitet von einer Schwemme befristeter Postdoc-Stellen und sonstiger Stellen ohne Tenure-Aussicht. Durch diesen Raubbau am US-Hochschulsystem und dessen stetig zunehmende Geld- und Statusgefälle sind auch die verbliebenen Assistenzprofessuren stark unter Druck geraten. Die Department-Struktur verhindert zwar immer noch weitgehend, dass die Bewährungsbeschäftigten in deutscher Manier zur abhängigen Gefolgschaft der Professor:innen werden. Doch in der verschärften Konkurrenz geben zunehmend familiäre Startvorteile und quantitative Erfolgszahlen den Ausschlag. Insgesamt haben die genannten Trends auch jenseits des Atlantiks längst die Wissenschaftsfreiheit untergraben, die das Tenure-System einst sichern sollte.

Fast scheint es, als sollten im Zeichen des Tenure Track zwei heruntergewirtschaftete Hochschulsysteme verbunden werden, um durch Versatzargumente alte und neue Privilegien besser schützen zu können: ein US-System, das zunehmend an seinem Personal spart, ohne seine Eliteansprüche aufzugeben, und ein deutsches System, das mit kleinen und exklusiven Laufbahnversprechen sein von der Lehrstuhl-Elite abhängiges, projektfinanziertes Postdoc-Elend erhalten will.

In jedem Fall lohnt es zu fragen, welche Motivationen die Verfechter des Tenure Track in der laufenden Debatte antreiben. Die Hochschulrektorenkonferenz setzt vorrangig aufs Bewährte: steile Hierarchien, viele beliebig verfügbare Arbeitskräfte, ein unverkürzt an die befristet Beschäftigten weitergegebener Wettbewerbsdruck. Ähnlich eindimensional ist etwa der Deutsche Hochschulverband auf die Verteidigung professoraler Standesprivilegien fixiert. Die Junge Akademie wiederum vertritt trotz vereinzelter Demokratisierungssignale nicht, wie gern suggeriert wird ‚den Nachwuchs‘. Durch professorale Akademieleitungen und den eigenen Kreis als ‚herausragend‘ ausgewählt, repräsentieren ihre fünfzig Mitglieder vielmehr die wenigen, die im etablierten Wettbewerbsmodus bereits erfolgreich sind. Weil sie berechtigte Hoffnung hegen, sich bald zur Professur durchgekämpft zu haben, sehen sie zu den bestehenden Verhältnissen kaum prinzipielle Alternativen, sondern fordern nur faire Wettbewerbsregeln im Einzelnen. Gemeinsam und unwidersprochen könnten diese Akteure einen natürlicherweise anzustrebenden ‚Tenure Track‘ als Verheißungsfigur etablieren, die erneut von den dringend nötigen Beschäftigungsreformen ablenkt. Die wenig informierte Weise, in der sie diese Figur aufrufen, lässt vermuten, dass es ihnen weniger um eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse als um den Erhalt des Sonderbefristungsrechts und ihrer damit verbundenen Machtpositionen geht.

Potentiell sinnvoll könnte der Tenure Track (wohl) nur als Element einer grundlegenden Reform sein, die Dauerstellen oder den geregelten Übergang dorthin für Einstellungen nach der Promotion verbindlich macht. Er könnte etwa dazu beitragen, dass promovierte Wissenschaftler:innen nicht auf Jahre hin den Professuren zuarbeiten. Neben Dauerstellen mit Aufstiegsmöglichkeit könnten sie zudem als Erprobungsstellen fungieren, auf denen man rasch in verantwortliche Positionen gelangen, aber auch scheitern kann. Der Tenure Track würde in Deutschland dann eine, wiederum antizyklische, Maßnahme zur überfälligen Reanimation und Sicherung von Wissenschaftsfreiheit darstellen. Aktuell steht und fällt diese Freiheit aber vor allem damit, dass zehntausende wissenschaftlich Beschäftigter ohne Professur und Mitgliedschaft in der Jungen Akademie endlich solide Berufsperspektiven erhalten. Die Selbständigkeit, die sie bereits in den verbauten und aussichtsarmen Verhältnissen der Gegenwart zeigen, könnte sich dann jenseits eingefahrener Gleise bewähren.

 

Für das Netzwerk schrieben: Tilman Reitz, Britta Ohm, Álvaro Morcillo Laiz, Thomas Krichner und Lisa Janotta