Wie das Entschwinden physischer Räume und körperlich-leiblicher Begegnungen in digitale Formate gedeutet werden kann. Zum ‚Off‘-Charakter der Onlinehochschule. Kommentar
Lisa Janotta (unter Mitarbeit von Britta Ohm)
17.9.2020
Am 14.8.2020 überraschte die Bundesregierung mit der Entscheidung, ausländischen Erstsemester-Studierenden für ein digitales Wintersemester 20/21 keine Visa zu erteilen, wenn sie keine Teilnahme an Präsenzveranstaltungen nachweisen könnten. Eine ähnliche – mittlerweile zurückgenommene – Regelung in den USA hatte die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Anja Karliczek, jüngst noch kritisiert. Der Freie Zusammenschluss von Student*innenschaften (fzs) reagierte mit Kritik, der auch wir als NGAWiss uns angeschlossen haben.
Die Entscheidung der Bundesregierung fällt in eine Zeit, in der das Ringen um den Fluch oder Segen der digitalen Hochschullehre schon ein paar Monate alt und zugleich noch in vollem Gange ist. Aus New York/USA meldete sich James D. Walsh mit einem Szenario des Verschwindens der öffentlichen Universitäten zugunsten von EdTech-gesponserter Markenlehre (Harvard, Yale, Stanford etc.). Damit würde langfristig die Massen-Digitaluniversität zum Regelfall und die Präsenzlehre an Elite-Einrichtungen zur Ausnahme und zum Luxus. Zugleich gelten die US-amerikanischen Privatuniversitäten als besonders von der Corona-Krise gebeutelt, da sie von den Einnahmen der Studiengebühren abhängen – und die fielen krisenbedingt aus. In England hingegen, so heißt es, werde schon lange auf die Digitalisierung hin gearbeitet, um endlich die Raumkosten für die Präsenzlehre zu sparen.
Während in der englischsprachigen Debatte eine Dystopie gezeichnet und über die neue Macht von EdTech-Konzernen nachgedacht wurde, teilte man in der bundesdeutschen Debatte zumindest die Sorge um das Verschwinden der Präsenzlehre – und eine Petition zur Verteidigung derselben. Demgegenüber verlangte Christian Dries, „Schluss mit dem Digitalgejammer“ und statt dessen „unverzagt das Beste aus zwei Welten zu kombinieren und mit blended learning Ernst zu machen: die Präsenzlehre für das zu reservieren, was sie ausmacht, den Austausch, das intensive Gespräch (im Idealfall in kleineren Gruppen als bisher); und einen großen Teil der Inhalte dafür effizienter und womöglich auch besser digital zu vermitteln.“
Online-Lehre wird einerseits als Geschäftsmodell, andererseits als Heilsversprecherin für eine ungeahnte Effektivierung des Hochschulbetriebs gehandelt. Was aber steckt alles in der digitalen Büchse der Pandora? Nun ist die Hochschullandschaft in der Bundesrepublik Deutschland nicht mit der (privaten) studiengebühren- und unterfinanzierten Landschaft der USA und England vergleichbar. Hierzulande wurde und wird vielmehr diskutiert, wer eigentlich finanziell an der Digitalisierung gewinnt, ob es über das Ja oder Nein zur digitalen Lehre hochschuldemokratische Mitbestimmung geben kann, wer die Kosten für die nun privatisierten Arbeitsräume der Lehrenden und Studierenden trägt und wie sich soziale Ungleichheiten durch die Digitalisierung erneut verstärken könnten (siehe dazu Mathias Fuchs sowie Peter-Paul Bänziger). Dass in Videokonferenz-basierten Seminaren ganz eigensinnige (Nicht-)Dynamiken entstünden, wirft Christian Kirchmeier ein: Im vergangenen Semester beobachteten Dozent*innen, dass Studierende konsequent ihre Kameras und Mikrofone aus ließen und somit im Seminarraum unsichtbar blieben.
Dieser Diskussion ist eine weitere Facette hinzuzufügen: Es muss gefragt werden, was für ein Menschenbild Stichwortgeber der Idee ist, dass die Präsenz von Studierenden an ihrem Studienort überflüssig sei – während Urlaubsreisen in alle Richtungen unter der Beachtung aktueller Hygienebestimmungen längst wieder erlaubt sind.
Anhand der konkreten Visapolitik(entwürfe) der USA und Deutschlands – der Vorenthaltung von Visa für ausländische (Erst-)Studierende im Digitalsemester – lässt sich nach den zugrundeliegenden impliziten Konzepten von ‚Studierenden‘, vom ‚Studieren‘ und von ‚universitärer Bildung‘ fragen. Was für ein Menschenbild steckt hinter der Idee, dass Studierende nicht am Studienort selbst relevante Erfahrungen machen könnten? Warum soll den ausländischen (Erst-)Studierenden die Möglichkeit genommen werden, Lehrenden in ausreichend belüfteten Räumen im Rahmen einer Sprechstunde zu begegnen? Warum soll diesen (Erst-)Studierenden der Weg zu Kleingruppentreffen mit Kommilliton*innen im Freien genommen werden, sowie der Zugang zu den lokalen Bibliotheken, deren Bestände größtenteils gedruckt sind?
Um einer Missinterpretation vorzubeugen, sei vorausgeschickt: Zur Debatte steht hier nicht, dass die coronabedingte Digitalisierung eine wertzuschätzende Möglichkeit ist, universitäre Lehre und (nunmehr digitale) Bildungsräume unter den Bedingungen des Infektionsschutzes aufrecht zu erhalten, bzw. neu zu gestalten. Stattdessen geht hier es darum, in der jungen Debatte und der unbekannten politischen Situation neue Dynamiken und Tendenzen zu deuten.
Es liegt nahe, dass in den deutschen und US-amerikanischen Diskussionen zu Einreisebeschränkungen für Studierende schlicht keine Notwendigkeit zu einer körperlich-physischen Bewegung der Studierenden gesehen wird. Denkt man dies mit den in der englischsprachigen Debatte beschriebenen Entwicklungen zusammen, so schlägt die unter den Vorzeichen von Corona entworfene Visapolitik in eine ähnliche Kerbe wie die Hoffnung auf eine effiziente (und vielleicht auch lukrative) digitale Hochschule – wenngleich, um im Bild zu bleiben, aus einer anderen Richtung. Ergänzend kann also gefragt werden: Woher kommt die Annahme, dass das Dozieren, das Gestalten von Bildungsräumen unabhängig von der leibhaftig erfahrbaren Person des*der Lehrenden und dem gemeinsamen Erleben mit Mitstudierenden realisierbar sei? Woher nehmen einige die Annahme, dass Hochschulinhalte als eine Massendienstleistung von internationalen Unternehmen eingekauft werden könnten?
Hochschulische Bildung als ausschließlich digitalen Prozess zu begreifen, entspringt wahrscheinlich – so der hier zur Diskussion gestellte Gedanke – dem Vergessen, dem Ausblenden, der Ignoranz von Körper- und Leiblichkeit der Bildung selbst (z.B. Rita Casale et. al 2020; Malte Brinkmann et al. 2019). Während die Hochschuldidaktik (z.B. mit dem Fokus auf Inklusion Platte et al. 2018) genau dies in die den Bildungsraum Hochschule einzubringen versucht – die Standortgebundenheit der individuellen Bildungsprozesse, die Abhängigkeit des Lernens von eignen Interessen, die Bedeutsamkeit des sozialen Austauschs und der leiblichen Reflexion von Haltungen und Handlungen – verbannt die neue Idee der digitalen (A)Synchronität von Bildung eine wichtige Realität: dass der Mensch in allen Lebensvollzügen an die Materialität seiner sinnlich erfahrenen Existenz gebunden ist. Im Essen wie im Schlafen wie im Sozialen wie im Lernen und Bilden. Stattdessen formiert sich die Idee einer gleichsam immateriellen Bildung, die jederzeit, von jedem*jeder online einkaufbar, privat realisiert wird. Es wird aber nicht mehr gefragt, wer welche Bildungsinhalte wie zur Verfügung stellt. Irgendwie, von irgendwelchen Dienstleistungsanbieter*innen aus einem ortlosen ‚Off‘, sollen Dienstleistungsnehmer*innen modularisierte Wissenspakete übermitteln werden, die dann, wie auch immer, in immerzu abrufbare Kompetenzen transformiert werden. Die so Gebildeten selbst scheinen keinen Ort mehr zu benötigen, von dem aus sie ihre Kompetenzen anbieten. Die völlig unterbezahlten Crowdworker dieser Erde geben darauf wahrscheinlich einen – durchaus dystopischen – Vorgeschmack (siehe dazu auch Robert Ovetz).
Unsichtbar wird die Ungleichheit der vielen privaten Orte, an denen das vermeintliche ‚reine‘ Wissen produziert und konsumiert werden soll. Im Privaten verschwindet auch das Leiden an der digitalen Sterilität, an der Unerreichbarkeit hochschulischer Atmosphären in der elterlichen Wohnung oder zwischen den eigenen Kindern. Darüber hinaus verschwindet in der Dynamik hin zur Digitalisierung nicht nur der Mensch in seiner Körper- und Leiblichkeit. Die Verschiebung der Präsenzlehre macht auch die Materialität als Bedingung des Digitalen unsichtbar: die (teilweise noch zu produzierenden) digitalen Endgeräte, die jedes für sich dezentral Strom verbrauchen; die Server, die die Videostreams ermöglichen und für die Strom aus endlichen Ressourcen gewonnen wird.
Diese Überlegungen nicht blind dafür, dass im Sinne des Infektionsschutzes eine Zeit lang nach alternativen Bildungsformen gesucht werden muss, dass Digitalisierung und die Möglichkeiten digitaler, (a)synchroner kollaborativer Arbeit und klimafreundlicherer Videokonferenzen statt vermeintlich unabdingbarer Kurzstreckenflüge nicht eine sinnvolle Sache wären. Es muss aber danach gefragt werden, welche (politischen) Phantasien und Ideologien die Konzepte von Online vermittelbarem ‚Wissen‘ und ‚Bildung‘ nähren – und auch danach, ob das eigentlich auf der Höhe unserer bildungstheoretisch und hochschuldidaktisch informierten Zeit ist. Und ob das Beiseiteschieben der Materialität des menschlichen Wohlstands (und seiner ungleichen Verteilung), des menschlichen Lebens und der menschlichen Bildung nicht allesamt Aspekte eines Vergessen(machen)s sind. Und schließlich, wie wir das Wissen um Körper- und Leiblichkeit in die Gestaltung der Hochschule und der Arbeitswelt zurück holen können.
Literatur:
Brinkmann, M./Türstig, J./Weber-Spanknebel, M. (Hrsg.) (2019): Leib, Leiblichkeit, Embodiment: pädagogische Perspektiven auf eine Phänomenologie des Leibes. Wiesbaden.
Casale, R./Rieger-Ladich, M./Thompson, C. (2020): Verkörperte Bildung Körper und Leib in geschichtlichen und gesellschaftlichen Transformationen. Weinheim/Basel.
Platte, A./Werner, M./Vogt, S./Fiebig, H./Julius Beltz GmbH & Co. KG (Hrsg.) (2018): Praxishandbuch Inklusive Hochschuldidaktik. 1. Auflage. Weinheim/Basel.
Berlin/Frankfurt a.M., 25. Juni 2020
Bündnis Frist ist Frust: „Vier Milliarden Euro für Befristung und Ausbeutung“
Mittelbauvertreterinnen und –vertreter sowie Gewerkschaften kritisieren Umsetzungspläne des „Zukunftsvertrags Studium und Lehre stärken“
Als Vergeben einer historischen Chance bewertet das Bündnis „Frist ist Frust“ den „Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken“. Den Aushandlungsprozess zu diesem Bund-Länder-Vertrag wird die Ge-meinsame Wissenschaftskonferenz (GWK) voraussichtlich am Freitag (26.6.) in Berlin endgültig ab-schließen. Das Bündnis, initiiert vom Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft sowie den Gewerk-schaften ver.di und GEW, kritisiert, dass die jährlich rund vier Mrd. Euro, die durch den Vertrag ab 2021 zeitlich unbegrenzt an die Hochschulen fließen, nicht an mehr dauerhafte Beschäftigung und bessere Arbeitsbedingungen an den Hochschulen geknüpft werden. Stattdessen werde die Verantwortung vom Bund an die Länder und von dort an die einzelnen Hochschulen verschoben. Das Bündnis hatte unter anderem gefordert, die Schaffung von Dauerstellen verbindlich im Vertrag festzuschreiben, eine Ober-grenze für die Lehrverpflichtung einzuziehen und die Beschäftigten in den Prozess einzubeziehen. Nichts davon werde aus Sicht des Bündnisses umgesetzt.
Dr. Andreas Keller, stellvertretender GEW-Vorsitzender und verantwortliches Vorstandsmitglied für Hochschule und Forschung, sagt dazu: „Wir wissen aus Erfahrung: Je größer der beschäftigungspoliti-sche Spielraum der Hochschulen ist, desto höher ist die Befristungsquote. An den Universitäten sind wir bei etwa 90 Prozent angekommen! Zum Schutz der Beschäftigten muss die Freiheit der Hochschu-len in dieser Frage dringend begrenzt werden. Hierfür hätte der Zukunftsvertrag die perfekten Voraus-setzungen geboten. Die Hochschulen bekommen jährlich vier Milliarden Euro aus dem Zukunftsvertrag, die der Sicherung einer hohen Qualität in Studium und Lehre dienen sollen. Warum der Bund, der dau-erhaft 50 Prozent der Gelder zahlt, den Ländern keine klaren Vorgaben macht, wie die Beschäftigungs- und Qualitätssicherungsziele des Zukunftsvertrages zu erreichen sind, ist unbegreiflich. Hochschullehre ist eine Daueraufgabe, für die Dauerstellen zu schaffen sind.“
Sylvia Bühler, für Bildung, Wissenschaft und Forschung zuständiges Mitglied des ver.di-Bundesvor-standes kritisiert: „Es passt nicht zusammen, wenn sich Hochschulen und Politik auf der einen Seite darauf verlassen, dass Beschäftigte in der Corona-Krise ad hoc ein digitales Semester aus dem Boden stampfen und sie auf der anderen Seite einem Großteil dieser Beschäftigten prekäre Arbeitsbedingun-gen zumuten. Anerkennung und Wertschätzung sieht anders aus. Der Zukunftsvertrag ist jedenfalls für zehntausende befristet Beschäftigte kein Vertrag in eine bessere Zukunft und damit eine große Enttäu-schung. Studium und Lehre dürfen nicht auf prekärer Arbeit aufgebaut sein, stattdessen braucht es Dauerstellen und klare Perspektiven. Wir geben keine Ruhe, bis diese ungehörigen Praktiken abgestellt sind.“
Dr. Dr. Peter Ullrich, Vertreter des Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss) betont: „Der ‚Konsultationsprozess‘ der vergangenen Monate zum Zukunftsvertrag zwischen dem Bundesmi-nisterium für Bildung und Forschung (BMBF) und den zuständigen Länderministerien war von einer skandalösen Intransparenz geprägt. Beteiligung der Betroffenen – Fehlanzeige. Das lässt nichts Gutes für die Umsetzung in den Ländern und an den Hochschulen erwarten. Politik und Hochschulleitungen täten aber gut daran, diesen Fehler nicht zu wiederholen. Die Beschäftigten werden ihnen das nicht nochmal durchgehen lassen.“
Solidarisch durch die Krise III.
Für eine nachhaltige Unterbrechung des Normalzustands
„Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“ (Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte. Werke und Nachlass / kritische Gesamtausgabe, Bd. 19, Berlin 2010, S. 153)
So könnte die ‚Corona-Krise‘ auch aussehen: Ausschlafen, mit den Kindern der Nachbar_innen spielen, für die alte Dame im oberen Stockwerk einkaufen. Publikationen absagen oder aufschieben (es gibt sowieso zu viele und manche brauchen schon ohne Corona Jahre bis zur Publikation), in der Lehrveranstaltung über die Beförderung der Pandemie durch den ungehemmten globalen Kapitalismus diskutieren, Prüfungen still oder offen bestreiken.
Die Gesellschaft insgesamt und die Wissenschaft brauchen nicht mehr Output und Konkurrenz – sondern mehr Muße, kritisches Bewusstsein und Solidarität. Wir wollen auch keine autoritäre Simulation des ‚Normalbetriebs‘ auf Kosten der Mitarbeiter_innen und keine ‚Lockerung‘ auf Kosten der Kranken und Älteren, sondern, wie wir schon Anfang April schrieben, ein „Innehalten und Umdenken“ („Solidarisch durch die Krise I“) oder eben mit Walter Benjamin: Den Griff nach der Notbremse aufgrund der bereits im ‚Normalbetrieb‘ unerträglichen Zustände und eines möglichen Rasens in die Katastrophe.
Angesichts der jüngsten ‚Lockerungen‘ des Shutdowns und der Debatten um eine möglichst schnelle Rückkehr zum ‚Normalzustand‘ überkommt uns ein gewisses Unbehagen: Als hätten viele den Eindruck, ‚wir‘ (Deutschland) – gern ausdrücklich im Gegensatz zu ‚anderen‘ genannt – wären ganz gut durch die Corona-Krise gekommen, und eigentlich seien die ganzen Maßnahmen doch vielleicht etwas übertrieben gewesen. Ist schon vergessen, dass der Shutdown notwendig war (und teils ist), um Vorerkrankte und ältere Menschen vor einer Ausbreitung des Virus zu schützen? Dass er vielleicht nicht in dem Ausmaß nötig gewesen wäre, wenn die Gesundheitssysteme (hierzulande nicht so sehr Betten, sondern Pflegekräfte und Testkapazitäten) nicht kaputtgespart und durch Fallpauschalen heruntergewirtschaftet worden wären, unter den gegebenen (lies: politisch hergestellten) Umständen aber unabdingbar war?
Doch wie sah der Shutdown aus der Perspektive der Wissenschaftler_innen und Lehrenden aus? In der Zeit des angeblich stillstehenden öffentlichen Lebens liefen wir auf Hochtouren. Von einem Tag auf den anderen haben uns die Hochschulleitungen ins Home-Office und die Zoom-Lehre dekretiert. Wir haben in unbezahlter Mehrarbeit innerhalb weniger Tage komplette Seminarkonzepte umgestellt, uns in neue Technologien eingearbeitet, die Sorgen von Studierenden aufgefangen – während wir zugleich Kita und Schule für eigene Kinder ersetzt, Angehörige gepflegt und mit eigenen Krisen gekämpft haben. Seit den ersten ‚Lockerungen‘ scheinen nun unsere Forderungen, die unzähligen geleisteten Mehrarbeitsstunden (von den Kosten für Drucker, Bücher, Telefon etc. pp. ganz zu schweigen) wenigstens ein Stück weit zu kompensieren, im Äther verschwunden. Die Forderungen nach einem ‚Nicht-Semester‘ oder ‚Solidarsemester‘ wurden von den wohlsituierten Universitätsleitungen nonchalant vom Tisch gewischt. Nicht einmal die Regelungen des Bundes wie die Verlängerung der Maximalbefristungszeit im Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) wurden flächendeckend verbindlich getroffen, sondern geben den Hochschulen allein die Möglichkeit, Verträge zu verlängern – oder eben auch nicht.
Kurz und knapp: Uns besorgt zutiefst, dass die derzeitige Tendenz, Mehrkosten, Mehrarbeit und Informationsbeschaffung auf uns als Individuen abzuwälzen, nicht grundsätzlich hinterfragt wird. Es ist nur zu angemessen, in der Notsituation und aufgrund von Angst um die Zukunft nach kurzfristigen Hilfen und Ausgleichsmechanismen zu fragen. Wie bekomme ich Kinderbetreuung? Wie kann ich meinen Arbeitsoutput leisten, meine Qualifizierungsziele und Prüfungen schaffen? Wie setzt meine Hochschule die Verlängerung der WissZeitVG-Maximalbefristungsdauer um? Wo finde ich verlässliche Informationen dazu? Die diesbezügliche Desorganisation wurde politisch hergestellt, indem (anders als bei Kitas und Schulen) die Entscheidungen den Ländern oder gar den Hochschulen überantwortet wurden. Damit sind der Willkür und der Abwälzung von Lasten auf die Arbeiter_innen Tür und Tor geöffnet anstatt dass verbindliche Regelungen zu deren Schutz geschaffen wurden. Der Vertrag des einen wird unbürokratisch verlängert, die andere muss kurz vor Vertragsende noch die teuren Bücher für ihre Seminare selbst bezahlen. Ist darum nicht die eigentliche Frage die nach der Akzeptanz der Rahmenbedingungen, die sich darin ausdrücken? Geht es nicht darum, die willkürlich gesetzten und im Corona-Modus krampfhaft aufrechterhaltenen, ja tatsächlich im Hinblick auf eine neue Digitalisierungsideologie schon wieder reformulierten Effizienzanforderungen des Wissenschafts- wie des Wirtschaftsbetriebs endlich nachhaltig zu hinterfragen und gleichzeitig darum zu kämpfen, dass uns allen daraus keine Nachteile erwachsen?
Was wird denn im hegemonialen politischen Diskurs derzeit ‚Solidarität‘ genannt? Können wir von Solidarität sprechen, wenn der Staat den kapitalistischen Normalbetrieb (inklusive der Hochschulen) durch Milliarden von Steuergeldern aufrechterhält oder dies zumindest simuliert – die daraus entstehenden Zumutungen und existentiellen Fragen aber individualisiert? Kann man es Solidarität nennen, wenn politische Akteur_innen von Boris Palmer über Armin Laschet bis zum ‚Widerstand 2020‘ zunehmende ‚Lockerungen‘ des Shutdowns mit der notwendigen Unterstützung der jüngeren und mittleren Generationen begründen? Ist es tatsächlich solidarisch, wenn 500 Wissenschaftler_innen in einem (in anderen Punkten wie der Kritik an der feudalen Lehrstuhlstruktur eigentlich begrüßenswerten) Offenen Brief behaupten: „Wenn es eine Generation gibt, welche die langfristigen Folgen der aktuellen Krise schultern muss, dann ist es vorwiegend diese Generation [der unter 50-Jährigen].“ Es fällt doch eher schwer, in diesen Beispielen, in denen Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausgespielt werden, Solidarität zu erkennen. Tatsächlich müssen die Folgen der Pandemie insbesondere die weniger privilegierten Angehörigen aller Generationen schultern. Es ist wahr und absolut zentral, dass die jüngeren Generationen mit einer Wissenschaft (ja einer ganzen Welt) zurechtkommen müssen, die die durch einen neoliberal zugespitzten Kapitalismus effektiv zerstört wurde. Wahr ist aber auch, dass massenhaft prekarisierte Ältere Jahrzehnte lang zum gesellschaftlichen Reichtum inklusive des wissenschaftlichen Betriebs beigetragen haben, ohne dafür angemessen entlohnt zu werden – und jetzt bedeutet bekommen, dass die anfängliche ‚Rücksicht‘ auf ihr erhöhtes gesundheitliches Risiko in der Pandemie dem ‚Hochfahren‘ der Maschine in die ‚Normalität‘ doch eigentlich irgendwie im Weg stehe.
‚Normalität’ ist ein Zauberwort jeder Krise und gleichzeitig die Chimäre, die gern vergessen lässt, dass auch die Normalität längst krisenhaft war. Es scheint uns aus dem Blick zu geraten, dass wir schon im ‚Normalzustand‘ überarbeitet waren, strukturell bedingte Depression und Krankheiten dem sub-optimierten Subjekt überantwortet wurden, dass wir trotz Klimakatastrophe und fortgesetzter Überproduktion (von Autos wie Drittmittelanträgen) ohne Geschwindigkeitsbegrenzung ein Leben im Ausnahmezustand gelebt haben. Nun soll der kapitalistische ‚Normalbetrieb’ weiter laufen und laufen? Keine Produktion darf länger stillstehen? Keine Prüfung darf abgesagt, kein Artikel oder Seminar verschoben werden?
Mit Walter Benjamin sehen wir keine andere Option als den Griff nach der Notbremse. Wir wollen kein Hamsterrad. Wir wollen Zeit und Raum für gute Forschung, gute Lehre und ein gutes Leben. Erst wenn sich die Arbeiter_innen an den Hochschulen endlich entscheiden, nunmehr in einen selbstbestimmten Shutdown zu gehen, wird sich grundsätzlich etwas ändern. Kurzfristig umgesetzt werden müssen zunächst die folgenden Minimalforderungen: