Weshalb wir uns um eine Gefälligkeitsevaluation des Wissenschaftszeitvertrags-Gesetzes nicht bewerben
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Weshalb wir uns um eine Gefälligkeitsevaluation des Wissenschaftszeitvertrags-Gesetzes nicht bewerben

Offener Brief des Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss) an die Bundesministerin für Bildung und Forschung Anja Karliczek

Sehr geehrte Frau Ministerin, sehr geehrte Damen und Herren,

mit Interesse haben wir zur Kenntnis genommen, dass das BMBF die gesetzlich für 2020 vor­gesehene Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) nun ausgeschrie­ben hat. Da wir im Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft seit mehreren Jahren Infor­mationen und Erfahrungsberichte zur Lage der befristet Beschäftigten an den deutschen Hochschulen sammeln und die Auswirkungen des WissZeitVG bereits länger kritisch be­obachten, hätten wir gerne die Chance genutzt, unsere Aufklärungsarbeit mit Ihrer Unterstüt­zung und zu beiderseitigem Nutzen solide finanziert fortzusetzen. Da sich zudem die Erkennt­nisse der ersten Evaluation des WissZeitVG in Grenzen halten und auch weitere Studien nur blasse quantitative Daten zu durchschnittlichen Befristungsdauern erbracht haben, hätten wir die Gelegenheit nutzen wollen, vertieft die Probleme zu untersuchen, die das WissZeitVG un­serer Kenntnis nach nicht gelöst hat, sondern festschreibt und teilweise verschärft. Bei der Lektüre Ihrer Ausschreibung und der zugehörigen Unterlagen mussten wir jedoch feststellen, dass die Erkenntnisziele der zu erstellenden Evaluation willkürlich auf Teilaspekte des Geset­zes eingeschränkt wurden und noch nicht einmal dem im Gesetz selbst festgeschriebenen Evaluationszweck entsprechen.

Lassen Sie uns zunächst an die Geschichte des WissZeitVG erinnern. Das Gesetz wurde 2007 als ein Sonderbefristungsrecht in der Wissenschaft eingeführt, um die dort üblichen Zeitver­träge zu regulieren. In einer für die freie Wirtschaft und die staatliche Verwaltung unvorstell­baren Weise erlaubt es Hochschulen und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen, ihre Mit­arbeiter*innen über insgesamt 12 Jahre – 6 Jahre vor und 6 Jahre nach der Promotion – und ohne Aussicht auf Übernahme bzw. feste Einstellung befristet zu beschäftigen. In der Praxis wurde die Regelung konsequent gegen die Beschäftigten ausgelegt. War in der Gesetzesbe­gründung noch zu lesen, dass „das dauerhafte Beschäftigungsverhältnis auch weiterhin das Regelarbeitsverhältnis“ bleibe, entwickelte sich das Erreichen der 6- oder 12-Jahres-Grenze rasch zu einer biopolitischen ‚deadline‘ für das wissenschaftliche Arbeiten, weil nach Ablauf der Höchstbefristungsgrenze so gut wie keine Stelle entfristet wurde. Zudem fuhren die Hoch­schulen schamlos fort, Arbeitsverträge in äußerst kleine Zeiteinheiten zu stückeln, und erfan­den einfach dazu passende „Qualifizierungsziele“. Selbst das Ministerium sah „Hinweise da­rauf, dass die Zahl der Verträge mit sehr kurzen Laufzeiten (von unter einem Jahr) ein Maß erreicht hatte, das weder gewollt war, noch vertretbar erschien“ (BMBF 2019, S. 1). Die No­vellierung des WissZeitVG im Jahr 2016 sollte darauf hinwirken, dass sich zumindest die Vertragsdauer der Einzelverträge innerhalb der Maximalbefristungszeit verlängert.

Evaluiert werden soll nun vor allem, ob dieser Zweck erreicht wurde. Laut Ausschreibung soll „der Schwerpunkt der Evaluation auf der Untersuchung der Auswirkungen des ‚Ersten Geset­zes zur Änderung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes‘ liegen“ (S. 3) und wesentlich Ver­tragslaufzeiten erfassen: „Im Hinblick auf das mit der Novelle verfolgte Kernanliegen, un­sachgemäße Kurzbefristungen zu unterbinden, sollen Erkenntnisse über die Vertragslaufzeiten sowie über die Gestaltung der individuellen Vertragsdauer in der Praxis gewonnen werden.“ (Ebd.) Das erscheint zunächst erfreulich, etwa weil Arbeitsverträge von weniger als einem Jahr nicht einmal den Anspruch auf Arbeitslosengeld I schaffen. Eine bereits vorliegende Stu­die (Gassmann/Emrich 2018) zu den durchschnittlichen Vertragslaufzeiten der befristeten Verträge nach der Novelle könnte so substanziell ergänzt werden.

Doch dies ist keineswegs die einzige Wirkung des Gesetzes, die evaluiert werden muss. Der Gesetzestext hält fest, dass nicht die Wirkungen der Novellierung, sondern die Wirkungen des gesamten Gesetzes einer Evaluation unterzogen werden müssen. Der mit der Novellierung hinzugekommene §8 zur Evaluation besagt: „Die Auswirkungen dieses Gesetzes werden im Jahr 2020 evaluiert.“ Von einer Einschränkung der Evaluation auf die Novellierung lesen wir hier nichts.

Zu evaluieren wären also die Zweckmäßigkeit und die Effekte eines Sonderbefristungsrechts in der Wissenschaft. Das beträfe zunächst die Qualität von Forschung und Lehre, denn die er­weiterten Befristungsmöglichkeiten in der Wissenschaft werden mit dem Grundrecht der Wis­senschaftsfreiheit (Artikel 5 GG) legitimiert. Es wäre daher zu prüfen, ob das Gesetz tatsäch­lich einen Beitrag zur Wissenschaftsfreiheit leistet (und damit Lehre und Forschung verbes­sert) – in anderen Ländern gilt schließlich gerade unbefristete Beschäftigung als Garantie wis­senschaftlicher Freiheit (vgl. etwa den Wikipedia-Eintrag zu „Academic tenure“). Untersucht werden müsste hier etwa, wie viele Forschungsarbeiten aufgrund von Kurzzeitbefristungen nie zu einem Abschluss kommen und welchen Einfluss ständiger Personalwechsel auf kolla­borative Forschungen hat. Mit Blick auf Wissenschaftsfreiheit und andere Grundrechte (s.u.) wäre aber vor allem der durch das Gesetz legalisierte Sachverhalt zu beleuchten, dass sich die sogenannte Qualifizierungs- und Bewährungsphase bis ins vierte und fünfte Lebensjahrzehnt von Wissenschaftler*innen ausdehnt. Sie gelten als „Nachwuchs“ und müssen sich auch nach ihrer Promotion auf befristete Stellen bewerben, während sie bereits jahrelang, ggf. seit über einem Jahrzehnt hochwertige wissenschaftliche Arbeit leisten. Aus dem Kükennest werden sie erst entlassen, wenn es ihnen mit etwa 40 Jahren gelingt, eine der wenigen unbefristeten Dauerstellen – in der Regel eine Professur – zu erjagen. Werden sie nicht in dieser Weise flügge, fallen sie aus dem Nest, können ihre jahrelang erworbenen Kenntnisse oft einfach fort­werfen und sich lebenslang lernend in neue Arbeitsfelder hineinarbeiten. Dies betrifft keines­wegs eine zu vernachlässigende Minderheit, sondern (mit fächerspezifisch verschiedenen Be­dingungen und Konsequenzen) 96% der Promovierenden und 80% der Habilitierten (WR 2014, S. 25; BuWiN 2017, S. 34).

Dass Wissenschaftler*innen mit Diplom oder Master weitere zwölf Jahre lang als unfertiger „Nachwuchs“ gelten und selbst nach der Promotion zunächst fast keine Möglichkeit auf Fest­anstellung haben, ist im internationalen Vergleich einmalig. In Deutschland haben nur 17% des wissenschaftlichen Personals an Hochschulen ein unbefristetes Arbeitsverhältnis, von den Nichtprofessor*innen unter 45 Jahren sind über 90% befristet beschäftigt (DeStatis 2018, S. 32; BuWiN 2017, S. 126). Sie tragen die Hauptlast der Arbeit – und die große Mehrheit von ihnen wird nach zwölf Jahren dieser Arbeit (oder früherem Aufgeben) unsachgemäß entsorgt. In anderen Ländern liegen die Anteile der befristeten Arbeitsverträge deutlich niedriger. Frankreich stellt über die Hälfte seiner wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen als selbststän­dige Hochschullehrer*innen (mit und ohne Professur) unbefristet an, Länder wie Großbritan­nien kennen mit der Gruppe der Lecturer und Reader ebenfalls entfristete Statusgruppen jen­seits der Professur und kommen auf Befristungszahlen unter 50% (vgl. Kreckel 2016).

Die für Deutschland spezifische Schieflage ist auf zahlreiche Konstruktionsfehler zurückzu­führen, die von der Fixierung auf die traditionelle Habilitation bis zum hyperflexiblen Projekt­betrieb reichen. In einer Evaluation des WissZeitVG wäre zu prüfen, inwieweit das Gesetz einen weiteren Konstruktionsfehler dieser Art darstellt. Wir fordern Sie daher auf, für eine gesetzeskonforme Evaluation zu sorgen.

Im gleichen Zug könnten Sie auch weitere Aspekte der Ausschreibung nachbessern. Die Un­tersuchung familien- und gesundheitspolitischer Komponenten (BMBF 2019, S. 5) bleibt so lange lückenhaft, wie sie allein Möglichkeiten der Höchstfristverlängerung (ebd.) und nicht die grundsätzlichen Auswirkungen von befristeten und oft überlasteten Arbeitsverhältnissen untersucht. Das beträfe auch die wichtige Frage, inwiefern mit dem WissZeitVG in das Grundrecht der Beschäftigten auf körperliche und psychische Unversehrtheit (Artikel 2 GG) eingegriffen wird. Zu erheben wäre weiterhin, wie die vom WissZeitVG Betroffenen die di­versen Fristen mit ihren wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen, ihrer Lebensplanung und ihren Möglichkeiten beruflicher Weiterentwicklung vereinbaren können. Zudem wäre zu be­leuchten, inwieweit prekäre Arbeit in der Wissenschaft Frauen benachteiligt, die weiterhin den größten Teil der gesellschaftlichen Sorgearbeit leisten, was sie für Menschen bedeutet, die nicht aus ökonomisch abgesicherten Milieus kommen, einen Migrationshintergrund haben oder mit Behinderungen leben – und welche Chancen sie jeweils haben, der Prekarität zu ent­kommen. Wie sind Personen, die potentiell Diskriminierungserfahrungen machen, auf Profes­suren und allgemein im Bereich unbefristeter Stellen repräsentiert? Welche Auswirkungen hat das WissZeitVG auf ihre bisherige Unterrepräsentiertheit?

Fragen dieser Art hat bereits die erste Evaluation des WissZeitVG nicht hinreichend gestellt. Das Ergebnis lautete (trotz hilfreicher Einsichten im Detail) entsprechend tautologisch, dass das Befristungsrecht Befristungen ermöglicht, bzw.: „dass die mit Inkrafttreten des Wiss­ZeitVG neu eingeführten Vorschriften geeignete und überwiegend belastbare Instrumente sind, um befristete Beschäftigungsverhältnisse mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft­lern eingehen zu können“ (Jongmanns 2011, S. 4). Der für eine Evaluation nötige übergeord­nete Gesichtspunkt – ob die gesetzlich neu geregelte Praxis den Wissenschaftler*innen oder der Wissenschaft nutzt oder schadet – ist in diesem Resümee nicht zu erkennen. Die mit der neuen Evaluierung gegebene Chance, zu stärkeren Ergebnissen zu kommen, sollte nicht unge­nutzt bleiben.

Lassen Sie uns zusammenfassen: Das deutsche Wissenschaftssystem krankt an den Beschäfti­gungsbedingungen, die es seinen Wissenschaftler*innen bereitstellt. Dass es nicht längst zusammengebrochen ist, ist lediglich über das besondere Engagement von Wissenschaft­ler*innen für Forschung und Lehre – oder ihre besonders effektive Ausbeutung – zu erklären. Doch kann die Qualität von Forschung und Lehre nicht auf Dauer unter diesen Bedingungen gewährleistet werden. Schon jetzt machen Wissenschaftler*innen Abstriche an der Qualität von wissenschaftlichen Veröffentlichungen und der Betreuung von Studierenden, um sich vor den Zumutungen des Befristungskarussels zu schützen.

Wir fordern Sie auf, die exzessive Befristungspraxis in einer Weise evaluieren zu lassen, die diese Auswirkungen grundlegend analysiert. Kriterien dafür könnten sein: die Bedingungen für verlässliche, angstfreie Forschung und Lehre; die Gewährleistung physischer und psychi­scher Gesundheit; die Ermöglichung beruflicher Weiterentwicklung, privater Lebensplanung und -gestaltung; ein kooperatives Klima, das Bildungs- und Wissenschaftsräume zu einer le­bendigen Ressource der demokratischen Gesellschaft macht. Zudem ist zu bewerten, was das WissZeitVG als im Arbeitsrecht sowie im internationalen Vergeich einzigartiges Sonderbe­fristungsrecht (nicht) leistet. Bisher deutet einiges darauf hin, dass es vor allem der Arbeitge­berseite ermöglicht, Wissenschafler*innen wie vollgeschriebenes Papier zu entsorgen – ohne zu schauen, welches Wissen darauf festgehalten ist.

Zusätzlich bedauern wir, dass für die Durchführung der Evaluation, sofern sie nicht von einer Organisation mit Dauerstellen umgesetzt wird, wiederum nur Kurzfrist-Stellen vorgesehen zu sein scheinen. Im vorgesehenen Evaluationszeitraum (frühestens Mitte 2019 bis Ende 2020) würde die inzwischen vielerorts etablierte Anstands-Mindestfrist von zwei Jahren für eine Projektstelle unterboten. Auch dies ist ein Grund, weshalb wir uns als Netzwerk nicht um die Evaluation des WissZeitVG bewerben. Das Ministerium könnte solche Schwierigkeiten ver­meiden, indem es nur Forschungsinstitute in Betracht zieht, die mit regelmäßig eingeworbe­nen Projektgeldern unbefristete Stellen finanzieren. Angesichts der umrissenen Lage wäre auch zu überlegen, ob man die Evaluation der Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft als Daueraufgabe begreift, für die Dauerstellen erforderlich sind. Zumindest sollte das BMBF da­für Sorge tragen, dass die Arbeitszeit befristet eingestellter Evaluations-Mitarbeiter*innen we­der nach WissZeitVG noch nach Teilzeit- und Befristungsgesetz angerechnet wird, damit ihnen nicht die betriebsüblichen Nachteile für weitere Arbeitsverträge an deutschen Hoch­schulen und Forschungseinrichtungen entstehen.

Aus den ausgeführten Gründen sehen wir von einer Bewerbung ab. Sollte unsere Forderung, die Evaluation – wie im Gesetz niedergelegt – auf das gesamte WissZeitVG und seine Aus­wirkungen zu beziehen und daher neu auszuschreiben, keinen Widerhall finden, werden wir jedoch eine eigene Evaluation durchführen, die dieser Aufgabe besser nachkommen wird.

Mit freundlichen Grüßen,
Ihr Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft

Literatur

BMBF (2019): Leistungsbeschreibung „Evaluation der Auswirkungen des novellierten Wissenschaftszeitvertragsgesetzes“ https://www.evergabe-online.de/tenderdocuments.html;jsessionid=7F05D111AE7AB8CF3870E77249206E0E.app204?0-IResourceListener-documentsTableContainer-documentsTable-tenderDocumentsTable-documentList-6-downloadLink&id=251926

Gassmann, Freya/Eike Emrich (2018): „Wirkt die Novelle des Wissenschaftszeitvertragsge­setzes?“ In: Soziologie 47 (1), S. 7-25.

Jongmanns, Georg (2011): Evaluation des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG). Gesetzesevaluation im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. https://his-he.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Forum_Hochschulentwicklung/fh-201104.pdf

Kreckel, Reinhard (2016): Zur Lage des wissenschaftlichen Nachwuchses an Universitäten Deutschland im Vergleich mit Frankreich, England, den USA und Österreich. In: Beiträge zur Hochschulforschung 1-2/2016, S. 12-40. https://www.che.de/downloads/Beitraege_Hochschulforschung_Heft_1_2_2016.pdf

Statistisches Bundesamt (DeStatis) (2018): Broschüre Hochschulen auf einen Blick. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kul­tur/Hochschulen/Publikationen/Downloads-Hochschulen/broschuere-hochschulen-blick-0110010187004.pdf?__blob=publicationFile&v=3

Wissenschaftsrat (2014): Empfehlungen zu Karrierezielen und -wegen an Universitäten. https://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/4009-14.pdf

Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs (BuWiN, 2017). http://www.buwin.de/dateien/buwin-2017.pdf