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Die über die Plattform FragDenStaat zugänglich gemachten E-Mails aus dem BMBF lassen noch deutlicher als bisher erkennen, dass Drittmittel als Waffe gegen politische Gegner eingesetzt werden sollten. Die gestrigen Anhörungen der Ministerin im Bundestag hat Zweifel an ihrer Verantwortung für die erfolgte Missachtung der Wissenschaftsfreiheit nicht ausgeräumt. Sie muss für die Vorgänge geradestehen und zurücktreten.

Gestern hat sich die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau Stark-Watzinger, sowohl im Bildungsausschuss als auch im Plenum des Bundestages zur in ihrem Haus erwogenen politisch motivierten Streichung von Fördergeldern geäußert. Neue Sachinformationen hat sie der Öffentlichkeit nicht geboten. Sie blieb bei ihrer Verteidigungslinie, von den Vorgängen in ihrem Haus nichts gewusst zu haben; warum diese die politische Stoßrichtung ihrer Stellungnahmen zu den Unterzeichner:innen des „Statements von Lehrenden an Berliner Universitäten“ direkt fortsetzten, erläuterte sie nicht. Ungeklärt blieb insbesondere die Frage, wer die Förderprüfung bereits bei der Pressekonferenz am 10.05.2024 veranlasst hat, an der Stark-Watzinger behauptet nicht „persönlich“ teilgenommen zu haben. Ebenfalls ungeklärt blieben die Gründe, warum auch am 14. und 15. Mai noch dazu korrespondiert wurde, als das Ansinnen angeblich schon zurückgenommen worden war.

Seit unserer ersten Pressemitteilung in Reaktion auf die Panorama-Recherche zur Fördermittel-Affäre liefern die Vorgänge, die in den FragDenStaat zugänglich gemachten E-Mails erkennbar werden, weitere Gründe für unsere Forderung nach dem Rücktritt der Ministerin. Darüber hinaus bleiben die Rücktrittsgründe bestehen, auf die wir in den letzten Wochen und Monaten aufmerksam gemacht haben, siehe dazu unsere Stellungnahme vom 12. Juni.

Dem Verdacht, dass sie wissenschaftsadäquate Kriterien für die Förderung von Projekten ihren politischen Präferenzen unterstellt, setzt sich die Ministerin nun schon zum zweiten Mal in ihrer Amtszeit aus. Bereits im Sommer 2022 hatte ihr Ministerium Förderzusagen u.a. in den Bereichen “Gesellschaftliche Folgen der Corona-Pandemie” und Rechtsextremismusforschung nicht eingehalten. Damit war offenbar ein Prinzip politischer Willkür eingeführt, das sich im aktuellen Fall noch zuspitzt. Im Mai 2024 wurden Mitarbeiter:innen des Ministeriums angewiesen, eine Liste von BMBF-geförderten Wissenschaftler:innen zu erstellen, die einen Offenen Brief zu Polizeieinsätzen im Rahmen von Palästina-Protesten unterschrieben hatten. Wie wir jetzt wissen, zielte dies auf den möglichen Entzug der Förderung. Dessen politische Motivierung war den Auftraggebenden, wie die E-Mails belegen, vollumfänglich bewusst: „Letztlich wäre ein solcher [der mögliche Entzug einer BMBF-Förderung] natürlich eine politische Entscheidung“. Trotz klar geäußerter Bedenken des juristischen Personals im Ministerium verfolgte die Ministeriumsleitung ihre Absicht über mehrere Tage weiter.

Die entscheidende Rolle des Pressereferats, die sich aus der Korrespondenz zu diesem Vorgang erschließen lässt, deutet nicht nur darauf hin, dass die Listenerstellung eine Überreaktion auf die vorangegangene, von vielen Beobachter:innen als bedenklich beurteilte öffentliche Kommunikation der Ministerin war, sondern auch, dass die Ministerin über die Vorgänge informiert war. Selbst wenn dem nicht so wäre, sollte eine Ministerin, die in einem von ihr selbst ausgelösten Konflikt weder von den Aktivitäten ihrer Pressestelle weiß noch über die ihrer Staatssekretärin informiert ist, schleunigst ihren Hut nehmen. Die vorhandenen Indizien sprechen allerdings dafür, dass die Liste zur Vorbereitung der (laut eigener Diktion der Ministerialbeamten) „politischen Entscheidung“, unliebsamen Wissenschaftler:innen eine etwaige BMBF-Förderung zu entziehen, von Frau Stark-Watzinger selbst angefordert wurde. Mit jedem weiteren Dokument, das seit Anfang des Monats an die Öffentlichkeit gelangte, hat sich dieser Verdacht erhärtet. Das Vertrauen in sie als Ministerin für Bildung und Forschung ist nicht wiederherstellbar.

Auch dass sich die Ministerin hinter ihrem Personal versteckt, ist nicht neu. In der laufenden Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) hat sie den Dialog mit den Beschäftigten und ihren Vertretungen komplett an ihren Staatssekretär Jens Brandenburg ausgelagert, der ebenfalls keine wirkliche Verständigung erreicht hat: Alle Argumente zur Verbesserung der Forschungs- und Lehrbedingungen von prekär beschäftigten Wissenschaftler:innen wurden ignoriert. Schlimmer noch: Der Regierungsentwurf übernimmt die Vorlage der Allianz der Wissenschaftsorganisationen für die für die Wissenschaft und die Wissenschaftler:innen lebenswichtige Post-Doc-Phase. Auch im aktuellen Konflikt zeigt sich die Ministerin erst auf Drängen der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) und angesichts der Gefährdung ihres Amtes bereit, mit den „betroffenen Hochschullehrern“ (den Unterzeichner:innen des Offenen Briefs) zu sprechen.

An die Adresse von FDP, CDU und CSU richten wir abschließend den Hinweis, dass der Kampf gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus nur im Bündnis aller demokratischen Kräfte erfolgreich geführt werden kann. Diese Parteien verfehlen ihr Ziel, wenn sie den Antisemitismus opportunistisch ausnutzen, um Wissenschaftler:innen und die Wissenschaft anzugreifen. Sie versuchen damit, eine der Demokratie besonders verpflichtete Gruppe zu schwächen, verschonen die wahren Feinde des Rechtsstaates und machen es nicht leichter, gemeinsam auf dem Boden der Verfassung zu stehen.

Berlin, 27.6.2024, 10 Uhr.

Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft (NGAWiss)

Bettina Stark-Watzinger hat sich bislang vor allem durch Abwesenheit in zentralen Debatten ausgezeichnet. So hat sie im Prozess der Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) alle Argumente zur Verbesserung der Forschungs- und Lehrbedingungen prekärer Wissenschaftler:innern ignoriert. Nun tritt sie in einer ganz anderen Debatte in Erscheinung: Durch einen Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit. Der gestern öffentlich gewordene Versuch der Bundesministerin, kritischen und teilweise ohnehin prekarisierten Forscher:innen quasi als Strafe für missliebige Stellungnahmen zur Versammlungsfreiheit Forschungsgelder zu entziehen, ist eine Grenzüberschreitung. Wir fordern daher den Rücktritt der Forschungsministerin.

Themen, bei denen Reformen nötig sind und zu denen der Koalitionsvertrag konkrete Änderungen versprochen hatte, spielten in der Tätigkeit der Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger bis dato keine erkennbare Rolle. In ihrer zweieinhalbjährigen Amtszeit hat sie es versäumt, in irgendeiner Weise die Arbeitsbedingungen für nichtprofessorale Wissenschaftler:innen zu verbessern. Zu möglichen Änderungen zählen bspw. die signifikante Einschränkung des Sonderbefristungsrechts im WissZeitVG und eine Kursumkehr im Drittmittelunwesen, das im Bund befristete Projektgelder normalisiert. Stattdessen hat das Ministerium im Prozess der WissZeitVG-Novellierung nur Entwürfe hervorgebracht, die nahezu alles beim Alten lassen oder verschlimmern. Den Maßgabebeschluss des Bundestags-Haushaltsausschusses, der das BMBF verpflichtet, sich um eine Bund-Länder-Vereinbarung für ein Dauerstellen-Programm zu bemühen, sitzt die Ministerin einfach aus. Unmittelbare Reaktionen gab es von ihr allenfalls in Form einer spontanen Abwehr von wirklich lösungsorientierten Vorschlägen wie der Höchstbefristungsquote.

Wir haben uns zu diesen Themen mehrfach geäußert. In einer kürzlich veröffentlichten Erklärung haben wir außerdem darauf hingewiesen, dass das System befristeter Beschäftigung und wettbewerblich vergebener Projektmittel nicht nur eine Belastung der Lebensplanung sondern auch eine Einschränkung der Qualität von Forschung und Lehre darstellt. Prekarisierung und Drittmittelwesen beeinträchtigen die Unabhängigkeit und Kritikfähigkeit der beteiligten Wissenschaftler:innen. Dadurch wird auch ihre Widerstandsfähigkeit gegen möglicherweise immer weiter ins Autoritäre driftende politische Zustände geschwächt. Als besonders zensuranfälligen Bereich haben wir die Debatten zum Nahostkonflikt hervorgehoben

Offensichtlich hat die Ministeriumsleitung nun mehrfach versucht, Wissenschaftler:innen, die unerwünschte Meinungen (im konkreten Fall nicht einmal zum Thema Gazakrieg selbst, sondern zur Verteidigung des Rechts auf friedlichen Protest) geäußert haben, öffentlich und dienstlich dauerhaft zu beschädigen. Zu einer Kampagne der Bild-Zeitung, die Erstunterzeichnende eines offenen Briefs zu Campusbesetzungen öffentlich an den Pranger stellte, trug die Ministerin mit verdächtigenden Formulierungen bei. Wie nun aus Recherchen und Dokumentenveröffentlichungen des NDR hervorgeht, wurde im Ministerium darüber hinaus intern die Weisung erteilt, den fraglichen Brief strafrechtlich zu prüfen und auszuloten, ob den Unterzeichnenden Fördergelder entzogen werden könnten. Eine Erläuterung dieser Anweisungen wiederholte zudem die öffentlich geäußerten Zweifel der Ministerin daran, ob die Unterzeichnenden auf dem Boden des Grundgesetzes stünden. 

Tatsächlich steht Bettina Stark-Watzingers Versuch, Forscher:innen die finanzielle Grundlage ihrer Arbeit aufgrund politischer Meinungsäußerungen zu entziehen, im direkten Widerspruch zur grundgesetzlich garantierten Wissenschaftsfreiheit. Besonders absurd wirkt dieser Vorgang mit Blick darauf, dass das BMBF selbst das aktuelle „Wissenschaftsjahr“ unter den Begriff der Freiheit gestellt hat. Eine Hausleitung des BMBF, die sich derart an staatlichen Eingriffen in die Freiheit der Wissenschaft, der Forschung und der Lehre sowie der Meinungsfreiheit von Wissenschaftler:innen versucht, ist in einer Demokratie nicht tragbar. 

Um Schaden von ihrem Haus und der Wissenschaft in Deutschland abzuwenden, sollte Frau Stark-Watzinger ihr bisher ohnehin kaum ernsthaft ausgefülltes Amt räumen.

 

Berlin, 12.6.2024

Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft

 

 

(English Below)

Liebe NGAWiss Mitglieder und Interessierte,

wir laden euch zu einem Netzwerktreffen am Samstag den 22. Juni in Berlin ein. Ort ist der Kiezraum in Kreuzberg (www.kiezraum.org).

Ziel des Treffens ist es, sich über die Entwicklungen zur Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG), vor allem bezüglich der bevorstehenden Lesung im Bundestag, auszutauschen und Möglichkeiten des Protests in den kommenden Monaten zu besprechen. Je nach Teilnehmer*innenzahl stellen wir ein passendes Programm zu diesem Thema und anderen in Zusammenhang mit der Arbeit in der Wissenschaft (Wissenschaftsfreiheit, Grundfinanzierung) zusammen, gern auch mit eurer Unterstützung.

Beim Treffen werden wir uns auch auf eine am späten Nachmittag / Abend stattfindende Protestaktion vorbereiten, die anlässlich der Langen Nacht der Wissenschaften in Berlin, welche an dem Abend stattfindet. Alle sind herzlich eingeladen sich zu beteiligen.

Bitte meldet euch unter diesem Link bis zum 15.6. an:

Datum: 22.6.24

Zeit: 13-17 Uhr

Solidarische Grüße von NGAWiss

 

 


 

Dear NGAWiss members and interested parties,

We would like to invite you to a network meeting on Saturday, June 22nd in Berlin. The location is the Kiezraum in Kreuzberg (www.kiezraum.org )

The aim of the meeting is to exchange views on the developments regarding the amendment of the Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG), especially with regard to the upcoming reading in the Bundestag, and to discuss possibilities of protest in the coming months. Depending on the number of participants, we will put together a suitable program on this topic and others related to work in academia (academic freedom, basic funding). You are invited to contribute either by suggesting topics and/or your own expertise in any of these topics!

At the meeting, we will also prepare for a protest action in the late afternoon/evening, which will be oriented towards the Long Night of Science in Berlin, which will take place that evening. Everyone is cordially invited to participate.

Please register here until 15.6:

Date: 22.6.2014

Time: 1-5 pm

Solidary greetings from NGAWiss,

Isabel, Álvaro and Kristin from the NGAWiss coordination committee.

Über Wissenschaftsfreiheit wird in jüngster Zeit wieder vermehrt diskutiert. Während man in der Regierung stolz auf beste Werte Deutschlands in international vergleichenden Studien dazu verweist, inwiefern staatliche Strukturen freie Wissenschaft ermöglichen oder behindern, wird vonseiten mancher Wissenschaftler:innen die Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit durch eine sogenannte „Cancel Culture“ behauptet. Wir möchten uns in dieser Debatte zu Wort melden, weil wir glauben, dass keine der beiden Positionierungen die Realität (und die durchaus vorhandenen Gefahren) plausibel abbildet – und weil wir es angesichts der wachsenden Bedrohungen der Demokratie auch hierzulande für dringend geboten halten, dieses Thema anzusprechen. Denn Wissenschaftsfreiheit ist nicht nur eine Freiheit, die durch den demokratischen Rechtsstaat ermöglicht und garantiert wird; sie gehört ihrerseits zu den Bedingungen einer funktionierenden Demokratie.

Demokratischer und wissenschaftlicher Diskurs teilen eine basale Eigenschaft: Beide bilden Formen des Sprechens, in denen, mit Bezug auf überprüfbare Sachverhalte, das bessere Argument und nicht allein die Position zählen soll, aus der gesprochen wird. Beide müssen daher daran interessiert sein, dass zuverlässige Verfahren der Ermittlung von Fakten existieren und dass die kollektive Verständigung nicht von Herrschaftsstrukturen durchsetzt ist, die die Wahrheits- oder Entscheidungsfindung behindern; beide müssen einen Modus finden, der grundsätzlich nicht nur zu Kritik einlädt und sie so hörbar wie möglich macht, sondern sich zugleich gegen diskreditierende und diffamierende Formen von Pseudokritik immunisiert, deren Ziel nicht Erkenntnis, sondern die Stabilisierung oder Implementierung von Herrschaftsverhältnissen ist. In diesem Sinn sollte die universitas, die Gemeinschaft der Forschenden, nicht nur Wissensressourcen für den demokratischen Rechtsstaat bereitstellen, sondern außer einem Wissens- auch selbst ein Demokratielabor sein. Wissenschaftsfreiheit profitiert nicht nur von demokratischer Kultur, sie befördert auch deren Erhaltung.

Daher reicht es nicht, zu fragen, ob der Staat in die inhaltliche Ausgestaltung von Forschungsprogrammen hineinregiere oder nicht, und es ist prinzipiell weder gut noch schlecht, wenn kritische Haltungen und politisches Engagement auch wissenschaftliche Debatten prägen. Die entscheidende Frage, die im Verhältnis von Demokratie und Wissenschaftsfreiheit gestellt werden muss, lautet vielmehr: Stellen unsere Hochschulen und Forschungseinrichtungen in ihrer institutionellen Verfasstheit Räume bereit, in denen Wahrheitsfindung und Kritik sich im notwendigen Maß frei entfalten können?

 

Wissenschaftsfreiheit trotz prekärer Anstellung?

Daran sind Zweifel erlaubt. Bekanntermaßen beruht das deutsche Wissenschaftssystem auf dem quasi feudalistischen Prinzip, einem extrem kleinen Anteil ihrer Beschäftigten, zumeist Professor:innen, eine sichere Position vorzubehalten, während das Gros der wissenschaftlich Beschäftigten nicht nur befristet angestellt ist, sondern zudem an die Weisungen der Professor:innen gebunden und von deren Protektion abhängig ist. Die Mehrheit der wissenschaftlich Tätigen genießt schon deshalb keine volle Wissenschaftsfreiheit, weil ihre Anstellungsverhältnisse die Anpassung an die Forschungsagenden der happy few erfordern, die über Sicherheit, Macht und Einfluss verfügen. Eine repräsentative Studie hat ergeben, dass sich besonders befristet beschäftigte Wissenschaftler:innen auf Veranstaltungen und in Publikationen mit wissenschaftlicher Kritik zurückhalten, „weil sie sich zukünftige Beschäftigungsperspektiven oder Karrierechancen nicht verbauen wollen“. Zur entsprechenden Aussage gaben 39% der befristet Beschäftigten, aber nur 27% der Dauerbeschäftigten „Immer“, „Häufig“ oder „Teilweise“ an.[1] Dieselben befristet Beschäftigten sind aber auch in den Strukturen akademischer Selbstverwaltung schlecht repräsentiert, und der existenzielle Druck, der auf ihnen lastet, zwingt sie, ihre zeitlichen Ressourcen nicht in die Interessenvertretung als Gruppe und in den Aufbau einer demokratischen institutionellen Kultur, sondern in Forschungsoutputs und die Absicherung ihrer materiellen Lage zu investieren, d.h. Drittmittelerfolge zu erzielen und Positionen mit größerem symbolischem Kapital zu erhalten, die die ‚Überlebenswahrscheinlichkeit‘ in einem auf erbarmungslose Auslese getrimmten System erhöhen. Nicht allein aufgrund der Regelungen zur Professor:innenmehrheit, die einer proportional sehr kleinen Beschäftigtengruppe die meisten Rechte einräumen, sondern auch aufgrund karrierepraktischer Behinderungen verfügt der größte Teil der wissenschaftlich Tätigen auf institutioneller Ebene über wenig Mitbestimmung. Deren Gewicht ist in dem Maß geschrumpft, in dem Forschungsförderung in den letzten Jahrzehnten in den Drittmittelbereich verschoben wurde: So wurde der Anteil des prekären Personals erhöht und zugleich dessen Unterordnung unter die Forschungsagenden der Professor:innenschaft verstärkt.

 

Resilienz gegen den Rechtsruck trotz neoliberaler Entdemokratisierung?

Die Neoliberalisierung der Hochschulgovernance, in deren Zug diese Entwicklung stattfand, verfolgt in bestimmten Hinsichten eine offen antidemokratische Agenda: Hochschulen sollen wie Unternehmen geführt werden. Deshalb wurden – etwa zur gleichen Zeit, in der die Exzellenzinitiative implementiert wurde – Machtverschiebungen auch auf Ebene der Hochschulleitungen vorgenommen; interne Mitbestimmungsstrukturen wurden gezielt dadurch geschwächt, dass Steuerungskompetenzen an externe Hochschulräte verlagert wurden. Dieter Imboden, der Evaluator der Exzellenzinitiative, scheute sich nicht, deutschen Universitäten ein „falsch verstandenes Demokratiebedürfnis“ zu attestieren, das Rektorate hindere, „Führung“ zu zeigen, indem sie beispielsweise bestehende Fächerstrukturen zerschlagen, um finanzielle Ressourcen mit Blick auf Wettbewerbserfolge flexibel zu verschieben.[2] Im Klartext bedeutet dies, dass Wissenschaftsfreiheit den Governanceinstanzen, nicht den Wissenschaftler:innen zuzukommen hat, und es impliziert die Anforderung, mit maximaler Flexibilität über abhängiges Personal zu verfügen.

Die strukturelle Entdemokratisierung, die an den Universitäten in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten stattgefunden hat, lief deshalb unter dem Radar einer breiten Öffentlichkeit, weil sie an der Funktionsfähigkeit von Wissenschaft nichts zu ändern schien und man sogar glaubte, dass diese vom Exzellenzprinzip profitiert. Wissenschaftsfreiheit als demokratisches und kulturelles Gut ist mit der Machtkonzentration auf immer kleinere Gruppen und immer enger definierte Instanzen jedoch nicht kompatibel. Sie kann nur in einem Umfeld gedeihen, das eine freie Diskussion unter grundsätzlich Gleichberechtigten gewährleistet und Vielfalt ermöglicht: Originelle Forschung und konstruktive wechselseitige Kritik setzen langfristigen Kompetenzaufbau voraus und profitieren von hierarchiearmen Strukturen; beides erfordert sichere Positionen für möglichst große Gruppen von Beschäftigten. Dass dies der Sinn von academic tenure ist, erschien einmal als gesicherter Grundsatz und scheint dennoch vergessen worden zu sein; im deutschen Wissenschaftssystem wurde intensiv daran gearbeitet, es vergessen zu machen.

Was diese Entwicklung zur Folge hätte, wenn die freiheitlich-demokratische Grundordnung des gesamten Landes angegriffen wird, lässt sich leicht ausmalen. Es würde genügen, Universitäten den Geldhahn zuzudrehen, um sie in kürzester Zeit funktionsunfähig und damit politisch erpressbar zu machen, da ja ein großer Teil des wissenschaftlichen Personals disponibel und nur eine Minderheit beamtenrechtlich geschützt ist. Dass das bei Institutionen wie Museen und Theatern bereits jetzt geschieht, wenn sie demokratiefeindlichen Kräften wie der AfD  als unliebsam erscheinen und diese die Möglichkeit dazu haben, sollte auch der Wissenschaft als dringendes Warnsignal gelten.[3] Vor diesem Hintergrund klingen die Bekenntnisse zu Demokratie und Vielfalt, die Wissenschaftsinstitutionen wie die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) in jüngster Zeit mit Verve vorgetragen haben, überaus wohlfeil. Gegen antidemokratische Tendenzen ist mit schönen Worten noch kein effektiver Schutz geleistet. Um Wissenschaftsfreiheit wirklich zu sichern – im Normalbetrieb, aber um wieviel mehr noch im politischen Notfall –, wären zwei Dinge nötig: Erstens muss Wissenschaftsfreiheit als kollektives Gut verstanden werden, das nur in kollektiver Selbstkontrolle wirksam ausgeübt werden kann. Das bedeutet, dass zu ihren Ermöglichungsbedingungen die Entwicklung vielfältiger individueller Forschungsprogramme gehört. Wer dies versteht, darf Forschende nicht bis in ihr mittleres Lebensalter in Positionen halten, die die dafür notwendige Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit behindern, und darf Vielfalt nicht durch erzwungene Karriereabbrüche einschränken. Zweitens ist ein auf die Maximierung persönlicher Abhängigkeiten angelegtes System auch intern nicht gegen politische Gefahren gesichert. Wie leicht es sein kann, ein Universitätssystem politisch gleichzuschalten, hat sich in Deutschland historisch bereits erwiesen. Ist dieses System aber strukturell so angelegt, dass es nur einer relativ kleinen Personengruppe bedarf, um Herrschaftsverhältnisse im entsprechenden Sinne auszunutzen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Freiheit der Forschung mindestens partiell bewährt, umso geringer.

 

Wissenschaftsfreiheit, politische Debatte und staatlich begrenzte Redefreiheit – der Nahostkonflikt und die Stellung nichtdeutscher Wissenschaftler:innen

Zugleich ist die Wissenschaftsfreiheit auch direkt gefährdet, wenn der Raum des öffentlich Sagbaren eingeschränkt und die Möglichkeit wissenschaftlicher Betätigung davon abhängig gemacht wird, ob die Gesamtheit persönlicher Meinungsäußerungen in einem als akzeptabel abgesteckten Bereich bleibt. Besonders spürbar wird das für diejenigen, die nicht schon immer im deutschen Wissenschaftssystem tätig waren. Die behauptete Weltoffenheit und Bereitschaft, politisch verfolgten oder ihrer Existenzgrundlagen beraubten Forschenden Zuflucht zu gewähren, ist nicht allein dadurch begrenzt, dass gerade für diese Personengruppen zumeist nur kurzfristige Finanzierungen verfügbar gemacht werden. Angesichts der Streitigkeiten um den Nahostkonflikt sehen sich zudem insbesondere Gaststudierende, ausländische Forschungsgäste, eingewanderte und geflüchtete Wissenschaftler*innen mit vielfältigen Sanktionsdrohungen konfrontiert, wenn sie sich in unerwünschter Weise äußern und politisch betätigen. Die Praxis freien wissenschaftlichen Austauschs ist in diesem Feld bereits lange und nicht nur von institutioneller Seite durch Gesprächsverweigerungen beeinträchtigt,[4] zu denen vermehrt Gewaltbereitschaft, rassistische und antisemitische Übergriffe kommen. Sanktionen zielen aber nur fallweise darauf, solche Handlungsweisen zu unterbinden, um etwa jüdische Studierende zu schützen. Vielmehr beschränken die akademischen Institutionen selbst den Raum akzeptabler Äußerungen und Personen. Von Forensic Architecture bis zu Nancy Fraser wurden namhafte Gruppen und Personen akademisch ausgeladen, und auch längerfristige Gastverträge erweisen sich als politisch kündbar. Im Umfeld häufen sich weniger prominente Veranstaltungsverbote, Ausladungen, vorgreifende Absagen und öffentliche Kampagnen gegen Eingeladene, Vorab-Aushandlungen sensibler Vortragsthemen sowie Überprüfungen des politischen Profils möglicher Kooperationspartner. Die Neigung der deutschen Behörden, Debattenbeteiligte wie Yanis Varoufakis erst gar nicht mehr einreisen zu lassen,[5] verstärkt den Eindruck, dass eine offene Diskussion nicht erwünscht ist.

Der politische Horizont dieser Streitigkeiten ist offiziell durch das unstrittige und gerade heute unverzichtbare Prinzip definiert, dass antisemitische Äußerungen und Handlungen in Deutschland keinen Platz haben dürfen. In den einschlägigen Bekundungen wird jedoch häufig Israelkritik vorschnell diskreditiert und per se mit Antisemitismus identifiziert. Beispiele sind die mit Bezug auf Fördergelder beschlossene Verurteilung der stark umstrittenen Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) als insgesamt antisemitisch durch den deutschen Bundestag[6] sowie der Gebrauch der Antisemitismus-Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Obwohl vielfältig dargelegt wurde, dass diese Definition nicht für wissenschaftliche Kontexte und für rechtliche Verwendungen geeignet ist, weil sie etwa auch Kritik am Staat Israel als antisemitisch einzuordnen erlaubt,[7] besteht auf der Ebene der Hochschulleitungen zunehmend Bereitschaft, sie zur Kontrolle akademischer Tätigkeit einzusetzen.[8] Im Bereich der Fördergelder, die auch ohne gerichtsfeste Begründung gewährt, verweigert oder zurückgezogen werden können, sind Einschränkungen besonders leicht durchzusetzen.

Die Fragen, welche Solidarität Israel gebührt, welche Äußerungen antisemitisch sind und bei welchen Positionen die Redefreiheit aufhören muss, verdienen intensiv und konfliktoffen diskutiert zu werden. Gerade deshalb muss der politische wie auch der wissenschaftliche Diskurs jedoch vielfältig sein. Die Marginalisierung und Diskreditierung kritischer bzw. von der offiziellen Position der Bundesregierung, der Landesregierungen und des Bundestags  abweichender Stimmen birgt grundlegende Gefahren für die Zukunft ernstzunehmender wissenschaftlicher Praxis in Deutschland. Zum einen widerspricht die Auferlegung weniger, vorgeschriebener Einschätzungen und Definitionen wie der BDS-Verurteilung oder der IHRA-Definition dem Prinzip wissenschaftlicher Forschung, verschiedene Ansätze kritisch gegeneinander im Gespräch zu halten und fest etablierte Begriffe und Positionen infrage zu stellen. Zum anderen schüchtert die zunehmend autoritäre oder mindestens den Diskurs scheuende Haltung wissenschaftlicher Einrichtungen in Deutschland insbesondere ausländische Studierende und Forscher:innen ein und beeinträchtigt zusätzlich die internationale Offenheit, die u.a. durch ein ungastliches soziales Klima und die feudal-klientelistischen Anstellungspraktiken an deutschen Hochschulen ohnehin deutlich hinter anderen führenden Wissenschaftsländern wie England oder den USA liegt. In der internationalen Wahrnehmung gilt Deutschland angesichts der geschilderten Entwicklungen zunehmend als Ort, an dem kritische Wissenschaft generell unerwünscht ist. Das Problem, zu klären, unter welchen Bedingungen der akademische Raum in der Auseinandersetzung über Israel und Palästina nicht nur als Bühne für Proteste und Staatsmacht, sondern auch für den Austausch von Argumenten genutzt werden kann, besteht auf absehbare Zeit nicht nur hier.

 

Resümee: Wissenschaftsfreiheit als gefährdete Praxis

Die Bedingungen für freien und kritischen wissenschaftlichen Austausch verschlechtern sich auch jenseits der geschilderten Fronten. Sie werden auch von denen angegriffen, die Wissenschaft vorgeblich verteidigen, aber zugleich ganze Wissenschaftsrichtungen wie die Geschlechterforschung oder post- und dekoloniale Forschung zu diskreditieren versuchen. Selbst die sprachlichen Konventionen kritischer Wissenschaft sind den Angriffen rechter Parteien ausgesetzt, wenngleich es den Bundesländern bislang gesetzlich nicht möglich ist, geschlechtergerechte Sprache in wissenschaftlichen Texten zu untersagen.

Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass Wissenschaftsfreiheit als Praxis gefährdet ist, wo immer Wissenschaftler:innen als Akteure prekär gestellt sind und untergeordnet bleiben. Das gilt für befristet beschäftigtes wissenschaftliches Personal ebenso wie für nichtdeutsche Wissenschaftler:innen, und es zeigt sich gleichfalls, wenn die Institutionen akademischer Selbstverwaltung hierarchisch bleiben oder fortschreitend zugunsten managerialer Hochschulleitungen und inszenierter Wettbewerbe ausgehöhlt werden. Unter diesen Bedingungen fehlt den meisten Beteiligten der nötige institutionellen Rückhalt, um ihre wissenschaftliche Neugier zu entfalten, sich kritisch gegen Etablierte einzubringen, politische Impulse in die Wissenschaft einzuspeisen und autoritäre Eingriffe abzuwehren. Zentrale Bedrohungen der Wissenschaftsfreiheit kommen also nicht einfach von außen. Sie liegen in den Strukturen des deutschen Wissenschaftssystems selbst.

 

Fußnoten

[1] Mathias Kuhnt, Tilman Reitz, Patrick Wöhrle: Arbeiten unter dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz Eine Evaluation von Befristungsrecht und -realität an deutschen Universitäten, Dresden 2022, S. 82 f. https://tud.qucosa.de/landing-page/?tx_dlf[id]=https%3A%2F%2Ftud.qucosa.de%2Fapi%2Fqucosa%253A80511%2Fmets

[2] “Deutschen Unis fehlt es an Mut!” DIE ZEIT Nr. 6/2016, 4. Februar 2016.

[3] Siehe zur Zukunft des Tucholsky-Museums in Rheinsberg https://taz.de/Tucholsky-Museum-in-Rheinsberg/!6001781/, sowie die Position der AfD zum gemeinnützigen Theater in Eisenach https://www.thueringer-allgemeine.de/regionen/eisenach/article227886641/AfD-lehnt-Zuschuss-fuer-Theater-am-Markt-ab.html.

[4] Vgl. für die Vorgeschichte der aktuellen Gesprächsblockaden die Beispiele bei Meron Mendel, Über Israel reden. Eine deutsche Debatte, Köln 2023.

[5] Den Kontext bildete der umstrittene und dann gleich zu Beginn aufgelöste „Palästina-Kongress“ in Berlin https://www.fr.de/politik/yanis-varoufakis-news-krieg-in-israel-hamas-palaestina-kongress-berlin-einreiseverbot-fuer-93017945.html.

[6] Deutscher Bundestag, Drucksache 19/10191, 15.5.2019 https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw20-de-bds-642892.

[7] Vgl. https://www.rosalux.de/publikation/id/41168/gutachten-zur-arbeitsdefinition-antisemitismus-der-international-holocaust-remembrance-alliance/ und https://verfassungsblog.de/die-implementation-der-ihra-arbeitsdefinition-antisemitismus-ins-deutsche-recht-eine-rechtliche-beurteilung/

[8] Die Hochschulrektorenkonferenz hat sich diese Definition bereits 2019 zu eigen gemacht, und im Gefolge des 7. Oktober 2023 will etwa die Berliner Landesrektorenkonferenz mit ihrer Hilfe Antisemitismus an den Hochschulen bekämpfen.https://www.lkrp-berlin.de/aktuelles/231106-kein-platz-fuer-antisemitismus/index.html

siehe hier im [PDF]

 

Die Kabinettsvorlage zur Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (März 2024):

 

Stellungnahme von #profsfuerhanna

Die Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes führt vor, wie Gesetzgebung nicht laufen sollte. Nachdem das zuständige Ministerium (BMBF) eine Evaluation beauftragt, zahlreiche Gespräche mit Beteiligten und Betroffenen geführt, einen vor einem Jahr lancierten Änderungsansatz nach Protesten wieder zurückgezogen und dann in einen notdürftig veränderten Referentenentwurf überführt hat, wurde nun endlich die Kabinettsvorlage angekündigt. Das Ergebnis, das sich den Medienberichten entnehmen lässt, ist mehr als enttäuschend: Der im Juni 2023 veröffentlichte Referentenentwurf soll unverändert in Bundestag und Bundesrat gehen. Das Ministerium nimmt von der Vielzahl geäußerter Einsichten, Vorschläge und Argumente zur Reform oder Obsoletheit des WissZeitVG also schlechthin nichts auf und hält weiter an einem Plan fest, der die Situation für befristet Beschäftigte in der Wissenschaft sogar verschärft. Das gilt besonders für promovierte Wissenschaftler*innen, für die nun nicht mehr sechs, sondern vier plus zwei Jahre befristete Beschäftigung gestattet sein sollen: vier Jahre nach bloßem Ermessen der Arbeitgeber, zwei Jahre mit bedingter Zusage für eine Anschlussbeschäftigung. Die Initiative #profsfuerhanna lehnt diese halbherzige Neuregelung „4+2“ mit Nachdruck ab.

Der Vorschlag konterkariert die Forderung nach mehr Planbarkeit wissenschaftlicher Karrieren. Bei einem gleichbleibenden Anteil befristeter Beschäftigungsverhältnisse führt die 4+2-Regelung nur dazu, dass sich das Befristungskarussell noch schneller dreht: Nach der Promotion würden noch mehr Wissenschaftler*innen eine akademische Laufbahn mit noch schlechteren Karriereperspektiven beginnen und dabei unter noch größerem Zeit- und Konkurrenzdruck stehen. Nach den vier Jahren wären sie zudem in den allermeisten Fächern in Bewerbungsverfahren für eineunbefristete Professur noch nicht konkurrenzfähig. Eine bloße Verkürzung der Postdoc-Phase ohne  begleitende Maßnahmen, die Verbindlichkeit schaffen und Prekarität abbauen, verschärft die Probleme, die durch eine Reform eigentlich behoben werden sollten. Vereinbarkeit von Beruf bzw. Karriere und Familie bzw. Care-Arbeit, innovative Risikoforschung jenseits des Mainstreams, Engagement in akademischer Lehre und Selbstverwaltung sowie die Erhöhung von Diversität werden so deutlich behindert. Dies mindert die Qualität und Attraktivität von Forschung und Lehre in Deutschland noch mehr, als es ohnehin schon der Fall ist.

Als Gesetzgeber muss der Bund dafür Sorge tragen, dass das System massenhafter befristeter Arbeitsverhältnisse ohne nachhaltige Perspektive, das durch das Sonderbefristungsrecht in der Wissenschaft ermöglicht wurde, nicht weiterbesteht; eben dies kann und muss die Gesetzesreform leisten. Zugleich sollte er durch Förderprogramme und Vereinbarungen mit den Ländern den Aufbau von deutlich mehr Dauerstellen und die Etablierung zeitgemäßer Personalstrukturen an Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen unterstützen.

Wir sehen mit Sorge, dass der Wissenschaftsstandort Deutschland unter der uninspirierten und zögerlichen Wissenschaftspolitik des Bundes, fast aller Bundesländer und der meisten Hochschulleitungen leidet. Das Befristungssystem zerstört nicht nur vielfach Lebensläufe und hat den beruflichen Existenzkampf ins Zentrum wissenschaftlicher Werdegänge gerückt. Es führt auch zunehmend zur Abwanderung qualifizierter und kompetenter Personen aus der Wissenschaft und/oder ins Ausland. Bereits jetzt können viele Fächer Postdoc-Stellen nicht besetzen, hochkarätige internationale Bewerbungen werden aufgrund der fehlenden Karriereperspektiven immer seltener.

Die geplante Novellierung ist nicht geeignet, promovierte Wissenschaftler*innen für die Lehre und Forschung zu gewinnen, sondern dürfte eine fatale Signalwirkung entfalten. Aus dem akademischen Feld sind in den letzten zwölf Monaten – auch auf explizite Aufforderung
des BMBF – zahlreiche konstruktive Vorschläge dazu gemacht worden, wie eine Reform des Gesetzes angelegt sein und wie sie andere Reformen anstoßen könnte. Dass im Referentenentwurf offenbar weiterhin kein einziger dieser Vorschläge aufgenommen wurde, ist unverständlich und höchst frustrierend. Daher weisen wir abschließend noch einmal auf Vorschläge und Orientierungen hin, die uns besonders wichtig scheinen und die wir selbst verschiedentlich schon vertreten haben:

● Die wissenschaftliche Qualifizierung ist mit der Promotion abgeschlossen. Eine Phase danach (‚PostDoc‘) kann zur Orientierung und zur wissenschaftlichen Profilierung dienen, sie wird aber immer von selbständig agierenden, bereits qualifizierten Wissenschaftler*innen gestaltet. Die Vorstellung einer Qualifizierung nach der Promotion gehört zum Kern des Problems, weil sie die ausufernde Befristungspraxis rechtfertigt und dem immer wieder formulierten Ziel einer besseren Planbarkeit wissenschaftlicher Karrieren entgegensteht.

● Nach Abschluss der Promotion muss daher eine dauerhafte Beschäftigung oder Perspektive die Regel sein, so wie in jedem anderen Berufsfeld auch. Die Besonderheiten der Wissenschaft rechtfertigen keine Sondererlaubnis zur befristeten Beschäftigung qualifizierter Arbeitskräfte.

● Der Übergang zu einem besseren Beschäftigungssystem kann u.a. durch Höchstquoten für den Anteil befristeter Stellen an einer Fakultät, einer Hochschule oder Forschungseinrichtung gestaltet werden, die sowohl bundes- als auch landesgesetzlich (im Notfall auch durch Leistungsvereinbarungen mit den Hochschulen) festgeschrieben werden können – sie ließen sich, wie etwa der wissenschaftliche Dienst des deutschen Bundestags festgestellt hat, sogar im Wissenschaftszeitvertragsgesetz verankern. Solche Höchstquoten sollten nicht, wie es in
einigen Bundesländern schon praktiziert wird, den Status quo konsolidieren, sondern in Richtung arbeitsmarktüblicher Befristungsanteile gehen.

● Eine einzelne Gesetzesänderung allein kann die dringend notwendigen Strukturveränderungen nicht erreichen. Darauf darf sich das Ministerium aber nicht ausruhen. Es muss die überfällige Gesamtreform anschieben, die deutlich mehr Dauerstellen für Forschung und Lehre neben der traditionellen Professur schafft, die Abhängigkeit wissenschaftlicher Beschäftigter von einzelnen Professor*innen abbaut und eine nachhaltige Grundfinanzierung der Hochschulen sicherstellt, statt diese von einem überhitzten Projektwettbewerb abhängig zu machen.

Für #profsfuerhanna:

Prof. Dr. Daniel Bischof, Institut für Politikwissenschaft, Universität Münster
Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky, Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München
Prof. Dr. Christina Hölzel, Institut für Tierzucht und Tierhaltung, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Prof. Dr. Kai Koddenbrock, Bard College Berlin
Prof. Dr. Ruth Mayer, Englisches Seminar, Leibniz Universität Hannover
Prof. Dr. Tilman Reitz, Institut für Soziologie, Friedrich-Schiller Universität Jena
Prof. Dr. Tobias Rosefeldt, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin
Prof. Dr. Jörg Strübing, Institut für Soziologie, Universität Tübingen
Prof. Dr. Martina Winkler, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel