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Seit Tagen teilen unter dem Hashtag #IchbinHanna tausende Wissenschaftler:innen bei Twitter ihren prekären Arbeitsstatus an Hochschulen, listen die Zahl ihrer Arbeitsverträge auf, beschreiben den Druck, die Angst und die Zwangsmobilität, denen sie das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) aussetzt. Den Anlass hierfür, ein Wissenschaftsanwärter:innen wie Sechsjährige ansprechendes Video des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), das Dauerverträge als “Verstopfung” des Wissenschaftssystems und permanente Personalfluktuation als innovationsfördernd darstellte, hat das Ministerium inzwischen von seiner Website gelöscht. Die Zeichentrick-Protagonistin namens “Hanna”, die brav lächelnd beherzigt, dass frühzeitige Beratung ihr helfen wird, sich im Zweifelsfall rechtzeitig als späteres Innovationshindernis zu erkennen, hat Hunderten echter Wissenschaftler:innen das Stichwort dazu gegeben, erneut auf ihre prekäre Lage hinzuweisen. Seitdem gibt das BMBF sich in verschiedenen Statements bemüht, den – von einer wachsenden Zahl von Medienberichten flankierten – Twittersturm zu beruhigen. Am Sonntag, den 13.06.21, reagierte es mit einem schriftlichen, anonymen (bezeichnenderweise mit einem leeren Rednerpult bebilderten) Kommentar. Auf neuerliche Kritik hin legte es am 17.06. ein Video nach, in dem Staatssekretär Wolf-Dieter Lukas persönlich den Standunkt des Ministeriums zur Diskussion um #IchBinHanna erläutert. Warum keines dieser Statements der Debatte auch nur annähernd gerecht wird, sei hier noch einmal zusammengefasst.

 

Wiederholung und Ignoranz

Das Statement des BMBF überrascht wenig. Es wiederholt lediglich, was in dem Erklärvideo zum WissZeitVG, welches dem Hashtag seinen Namen gab, bereits vermittelt wurde: das Gesetz würde Innovation fördern und neuen Wissenschaftler:innen die Möglichkeit geben, an Hochschulen Fuß zu fassen. Die Antwort ist somit quasi eine neuformulierte Version des mittlerweile gelöschten Erklärvideos des BMBF zum WissZeitVG. Auch die nachgeschobene Erklärung des Staatssekretärs wiederholt diese Aussage – ergänzt durch die Beteuerung, dass viele Initiativen für die jungen Wissenschaftler:innen ergriffen worden seien. Dass die genannten Initiativen (Exzellenstrategie, Zukunftsvertrag und Tenure-Track-Programm) keine strukturelle Verbesserung versprechen und den überhitzten Wettbewerb zum Teil noch weiter befeuern, wird nicht erwähnt.

Ignoriert werden auch vorliegende Reformentwürfe, von den Gewerkschaftsforderungen zu “Wissenschaft als Beruf” über das Department-Modell der Jungen Akademie bis zu unserem Papier “Personalmodelle für Universitäten in Deutschland. Alternativen zur prekären Beschäftigung”. Alle diese Entwürfe schildern Möglichkeiten, die Befristungspraxis nachhaltig einzuschränken oder grundsätzlich abzuschaffen. Wir haben unser Papier im März dieses Jahres ans BMBF geschickt und bisher keine Antwort erhalten. Vielleicht wäre dafür jetzt ein guter Zeitpunkt gekommen!

 

Die Mär der jungen Wissenschaftlerin

Das Ministerium räumt ein, dass die “Befristung von Verträgen gerade jüngere Akademikerinnen und Akademiker vor erhebliche Herausforderungen stellt”. Dabei wird übergangen, dass betroffene Wissenschaftler:innen – Postdocs – zumeist über 30, 40 oder (sofern sie in Projekten beschäftigt sind oder zeitweise keinen Job in der Wissenschaft hatten) sogar über 50 Jahre alt sind. Promotionen, die oft ohne feste Finanzierung begonnen und aufgrund regelmäßig zu kurz befristeter und/oder mit anderen Aufgaben versehener “Qualifikationsstellen” sehr häufig prekär abgeschlossen werden, sind nicht einmal eigens erwähnt. Die mitfühlende Formulierung verschleiert also den tatsächlichen Status Quo.

Die Jüngeren werden aber auch für das wesentliche (und fast einzige) Argument des Ministeriums angesprochen. Die Befristungspraxis soll “nachfolgenden Generationen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine Chance auf Qualifikation” geben. Faktisch heißt das: Wir müssen regelmäßig viele akademische Beschäftigte loswerden, um neue anzuwerben, die dann ebenfalls wieder nach ein paar Jahren entsorgt werden müssen. Tendenziell zynisch schiebt das BMBF nach: “Zudem lebt die Wissenschaft von neuen Impulsen”. Im Klartext würde dies bedeuten, dass unbefristet Beschäftigte an den Hochschulen weniger innovativ arbeiten würden und dass von erfahrenen Wissenschaftler:innen, die nicht mehr zu den ‘Jüngeren’ zählen, keine neuen Impulse mehr zu erwarten sind. Ausgenommen sind hier vermutlich Professor:innen, für die man in dieser Argumentation gern eine unerklärte Ausnahme macht.

 

Die nicht endende Qualifizierung

Eine Hauptrolle spielt in der Antwort des BMBF die “Qualifizierung”, die zur Innovation beitragen und eine Befristung rechtfertigen würde. Dabei wird nicht erwähnt, dass sich diese Qualifizierung über sechs bis zwölf Jahre erstreckt und äußerst unterschiedlich gefüllt werden kann. Neben Promotionen und Habilitationen lässt das WissZeitVG auch verschiedenste andere, von Arbeitgeber:innen frei zu definierende wissenschaftliche Tätigkeiten als Qualifikationszweck zu. Die Antwort des BMBF unterscheidet nicht einmal, ob die zu Qualifizierenden hauptsächlich an einer großen Abschlussarbeit wie der Promotion arbeiten oder ob sie Aufgaben in Forschungsunterstützung, Lehre und Verwaltung erfüllen, die an Hochschulen eben anstehen. Vor diesem Hintergrund überrascht es, wie selbstverständlich das Ministerium die Wissenschaft mit Berufen vergleicht, in denen das Wort Qualifikation einen klaren, begrenzten Sinn hat: “Es ist auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verbreitet, dass Arbeitnehmer während der Qualifikationsphase befristet tätig sind. […] Das ist im Wissenschaftssystem nicht anders als auf anderen Arbeitsmärkten.” Da das WissZeitVG dafür sorgt, dass der akademische Arbeitsmarkt sehr besondere Eigenschaften hat, ist der Vergleich mit anderen Arbeitsmärkten nicht haltbar.

Insbesondere ist es absurd, unter dem Titel “Qualifizierung” die Postdoc- und Habilitationsphase mit der Promotionshase gleichzusetzen. Die Statements des BMBF sind in dieser Hinsicht so unterkomplex, dass sie unsinnig werden. So gut wie niemand fordert, alle Promovierenden zu entfristen – und umgekehrt qualifiziert (mit kleinen Ausnahmen in der Medizin) keine Habilitation für außerwissenschaftliche Berufe und Positionen!

Das BMBF hat am OECD-Bericht “Reducing the Precarity of Academic Research Careers” (2021) mitgeschrieben. Es wäre schön, wenn die Botschaften dieses Papiers auch beherzigt würden. Leider kommt der Bericht ohne eine vergleichende Statistik aus. Sonst wäre zu sehen gewesen, wie miserabel Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern dasteht. Immerhin wird darauf hingewesen, dass in Deutschland 77% der Postdocs an Hochschulen und 72% in Außeruniversitären Forschungseinrichtungen befristete Verträge haben. Denn gerade für diese Karrierephase begründet das WissZeitVG eine absolute Außenseiterrolle Deutschlands im internationalen Vergleich. In den Twitter-Reaktionen haben sich etliche auch hierzulande hoch angesehene Forscher:innen zu Wort gemeldet, die mittlerweile im Ausland arbeiten und erklären, wie viel produktiver sie seien, seit man sie wertschätzt, indem man ihnen unbefristete Verträge zugesteht, und sich keine Rückkehr nach Deutschland mehr vorstellen können. Sollte nicht mindestens dies dem Ministerium zu denken geben?

 

Schuld sind die Anderen

“Im Übrigen geht es in dem Gesetz ausdrücklich um die Möglichkeit einer Befristung, aber nicht um eine Befristungspflicht”, lässt das Ministerium wissen, und: “Das Gesetz muss gelebt werden”. Das BMBF gibt in seinen Stellungnahmen also wie gewohnt großzügig Verantwortung ab. Die notwendigen gesetzlichen Bedingungen seien geschaffen, nun müssten die Länder und Hochschulen sie einfach verantwortlich ausfüllen. Zumal werden die bescheidenen und nicht verbindlichen Zugeständnisse, die der Zukunftsvertrag an Forderungen der Kampagne “Frist ist Frust” gemacht hat, als große Vorleistung des Bundes für bessere Beschäftigungsverhältnisse angepriesen – seltsamerweise in einem Atemzug mit der Exzellenzstrategie: “Mit diesen beiden dauerhaft geltenden Vereinbarungen verbinden wir die klare Erwartung an Länder und Hochschulen nach mehr Dauerstellen in Studium und Lehre.” So klar, wie es dieser Satz nahelegt, wurde die Erwartung in der Exzellenzstrategie nicht formuliert. Heuchlerisch ist aber vor allem das Grundargument: Wir geben den anderen ja nur die Möglichkeiten, die sie (in sehr geringem, aber nicht mehr in unserer Verantwortung liegenden Ausmaß) nutzen sollen, also sind wir nicht schuld. Anders gefasst: Wir stellen den Gesamtrahmen der irgendwie innovationsförderlichen Fluktuation bereit, die damit verbundenen menschlichen Schicksale haben aber natürlich die Hochschulen zu verantworten.

 

Permanente Erfahrungsvernichtung

Hinterfragenswert ist insbesondere der vom BMBF wiederholt verwendete Begriff “Innovation”. Die Logik der Argumentation scheint vorauszusetzen, dass Innovation Anfänger:innenwissen in Massen braucht, auf vertiefte Einsichten durch Erfahrung aber verzichten kann. Oder ist die wirkliche Pointe der Befristungspraxis eine ganz andere? Vielleicht traut man “jungen” Wissenschaftler:innen eigentlich gar nicht zu, dass sie selber denken, will aber ihre Zuarbeit sicherstellen, damit die Professor:innen besonders innovativ sein können – besonders diejenigen, die das Denken breit delegieren können? Und falls dieser Verdacht überzogen scheint, sollte man noch einmal auf die entsprechende Praxis schauen: Weshalb arbeiten die befristet Beschäftigten fast durchgängig in persönlicher Abhängigkeit von den Professor:innen – und wann kommt dann das WissZeitVG für die Professor:innen selbst? Bei Juniorprofessuren und Nachwuchsgruppenleiter:innen wird zwar bereits mit entsicherten Führungspositionen experimentiert. Grundsätzlich verlässt sich das BMBF aber wohl darauf, dass die Aufteilung in eine kleine gesicherte und eine große prekäre Zone akademischer Beschäftigung insofern für Stabilität sorgt, als sie ein steiles Machtgefälle implementiert. Der anhaltende Twittersturm lässt allerdings ahnen, dass die große Mehrheit im wissenschaftlichen Personal, deren Leistungen und Erfahrungen dabei permanent entwertet und entsorgt werden,   sich in Zukunft nicht mehr nur in den sozialen Medien zur Wehr setzen wird.

Almost a year after our constitution and the first successful workshop, we – Precarious International/PI – are back.

PI brings together scholars, unionists and activists with different histories of mobility and migration to discuss and reflect on the intersection between precarious labour conditions and different forms of discrimination in the German academic system. We aim to to make intersectional discrimination a central issue of the activism of NGAWiss and establish an international solidarity network.

Follow us and our activities on Facebook, join the initiative and help us reach more precarious and solidarity scientists!

Liebe Netzwerkmitglieder, Mitgliedsinitiativen und Freund*innen von NGAWiss!

Die pandemische Zeit steht still und rennt zugleich. Es ist ein Jahr vergangen und wir laden Sie und euch zum nächsten bundesweiten Netzwerktreffen ein – noch einmal und hoffentlich letztmalig digital.

Im Zentrum steht die Personalmodelle-Diskussion, die wir mit unserem Rechenpapier Alternativen zur prekären Beschäftigung für eine #AndereUni angestoßen haben. Zu Gast werden auch Kolleg*innen aus Bremen sein, die in den letzten Jahren in Auseinandersetzung mit der Universitätsleitung und Hochschulpolitik für ein Department-Modell kämpften.

Außerdem wird die AG Precarious International ein Manifest präsentieren, wir wollen über #StopTheCuts diskutieren, die Gruppe „Siegel Gute Arbeit in der Wissenschaft“ stellt ihr Konzept vor und wir sprechen über das Konzept „Qualifikation“ aus einer rechtlichen Perspektive.

Zeitlicher Ablauf:

10:00-11:00 Einführung und Kennenlernen

11:15-12:00 parallele Info-Sessions I (#StopTheCuts; Manifesto von Precarious International)

12:15-13:00 parallele Info-Sessions II (Siegel für Gute Arbeit; „Qualifikation“ aus rechtlicher Perspektive)

14:30-16:00 Hauptsession: Quo Vadis Personalmodelle? (Bericht aus 6 Monaten Öffentlichkeitsarbeit; Austausch mit Bremer Kolleg*innen zum Umsetzungsversuch von Department- bzw. Researcher-Lecturer-Modell)

16:00-16:30 Ausblick: Offene Themen für die Zukunft

Ort: Zoom (Link wird nach Anmeldung verschickt)
Anmeldung bis 17.6. an: 

Wir freuen uns auf einen erfrischenden digitalen Tag,
bleibt gesund & solidarisch!

Der NGAWiss-Koordinierungskreis

 

Veranstaltungsorganisation in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung Studienwerk, Ehemaligenarbeit.

Diese Veranstaltung wird aus den Mitteln des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat gefördert.

 

Es braucht nicht nur Zahlen zu den nach wie vor hohen Befristungsquoten, sondern handfeste Konzepte für Dauerstellen jenseits der Professur

 

Der Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs (BuWiN) 2021 ist erschienen. Das 244 Seiten lange Werk ist das vierte seiner Art (vgl. 2008, 2013 und 2017) – und es ist immer noch ein Bericht über den vermeintlichen „Nachwuchs“ an Universitäten, Hochschulen und Außeruniversitären Forschungseinrichtungen (‚AUF‘). Wir fassen zusammen: Was ist neu am letzten Bericht, was wissen wir bereits aus den alten Berichten? Wo ändert oder weitet der 2021er Bericht den Blickwinkel?


  1. „Frist ist Frust“ und Kritik an Beschäftigungsverhältnissen kommt an!
  2. Über einen Nachwuchs, der kein Nachwuchs mehr sein soll
  3. Intersektionale Gerechtigkeit
  4. Zur Datengrundlage des BuWiN 2021
  5. Corona im BuWiN 2021
  6. Fazit: Wir brauchen endlich alternative Personalstrukturen!

 

1. „Frist ist Frust“ und Kritik an Beschäftigungsverhältnissen kommen an!

Beginnen wir mit erfreulichen Nachrichten: Der BuWiN 2021 spiegelt auch kritische Positionen, und nicht zuletzt die inhaltliche Arbeit des Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft wider. Auch die Vorgängerberichte hatten bereits aktuelle Debatten rund um die Hochschulpolitik in den Blick genommen. So verwies der BuWiN 2017 auf die Diskussionen über „Das promovierte Prekariat“ (Grottian, zit. in BuWiN 2017, S. 60). Der aktuelle BuWiN berichtet nun über die öffentlichen Debatten zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG), zum „Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken“ und zum Tenure-Track-Programm des Bundes.

Mit unserer Kritik an der Ausschreibung zur Evaluation des WissZeitVG und auch mit der Kampagne „Frist ist Frust“ (gemeinsam mit GEW und ver.di) anlässlich der Gestaltung des „Zukunftsvertrags“ ist es uns als NGAWiss gelungen, Aufmerksamkeit für die berechtigte Kritik an den aktuellen Personalstrukturen in der Wissenschaft zu erlangen. Auf den Seiten 59 und 62 werden unsere Beiträge zur Debatte im Bericht aufgenommen.

2. Über einen Nachwuchs, der kein Nachwuchs mehr sein soll

Seit Jahr und Tag kritisieren Wissenschaftler:innen den Begriff des „Nachwuchses“ für nicht-professorale Wissenschaftler:innen. Wie wäre es, wenn im nächsten Bericht den Begriff „Nachwuchs“ aus dem Titel gestrichen würde und was wären die Alternativen? Jüngst haben Erziehungswissenschaftler:innen die Figur „Jens* von P“ geschaffen und benennen damit „Wissenschaftler*innen jenseits von unbefristeten Professuren“. Etwas klassischer wäre der Verweis auf die – heterogene und doch statusähnliche – Gruppe, den Mittelbau (vgl. Überlegungen zur „Neubelebung des Begriffs ‚Mittelbau‘“). Wie wäre es also zukünftig mit einem BuWiM, also einem „Bundesbericht Wissenschaftlicher Mittelbau“ ab dem Jahr 2025?

Immerhin nimmt der BuWiN 2021 die Kritik am Begriff „Nachwuchs“ seit der letzten Ausgabe dezidiert auf. Während im BuWiN 2013 die ‚Bedeutung des Nachwuchses‘ noch unter den Schlagworten der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Hochschulsystems diskutierte, verweisen der BuWiN 2017 (vgl. S. 65f.) und 2021 (vgl. S. 62f.) auf die Paradoxie, hochqualifiziertes Personal als „Nachwuchs“ zu bezeichnen. Der Begriff wird als „unscharf“ kritisiert, einerseits, weil neben Promovierenden mittlerweile auch Personen in der Position von Tenure-Track-Professuren als „Nachwuchs“ bezeichnet würden, andererseits weil für akademisches nicht-professorales Personal von Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen strukurell keine akademische Karriere hin zur Professur vorgesehen ist, also die Metapher, dort ‚hineinzuwachsen‘ nicht aufgehe (vgl. ebd.). Das Problem ist also erkannt, aber es wurde von Seiten der Berichtschreibenden noch keine Konsequenz daraus gezogen.

3. Intersektionale Gerechtigkeit

3.1 Frauen, Care und Co.

Die gute Nachricht zuerst: Der Frauenanteil in akademischen Arbeitsfeldern steigt leicht. War das Verhältnis von Frauen zu Männern im Bereich des hauptberuflichen Personals im Jahr 2014 noch 38 zu 62 (vgl. BuWiN 2017, S. 99), so liegt das Verhältnis im Jahr 2018 bei 40 zu 60 (vgl. BuWiN 2021, S. 99).

Nun die schlechte Nachricht: Mittlerweile sind Frauen in den schlecht bezahlten und strukurell entrechteten akademischen Beschäftigungsverhältnissen (hier: LfbA) überrepräsentiert (53%), hingegen mit Blick auf statushohe und einkommensstarke Professuren weit von der Parität entfernt (25%, vgl. BuWiN 2021, S. 99). Der Anteil der im Jahr 2018 neuberufenen Frauen auf geringer dotierten W2-Professuren (34%) ist deutlich größer als der Anteil der neuberufenen Frauen auf den höher dotierten W3-Professuren (27%, S. 90). Eine Aufschlüsselung nach Universitäten und Hochschulen wurde nicht vorgenommen – zu vermuten wäre, dass es auch hier der Statusunterschied mit der Geschlechterverteilung korreliert.

Erneut stellt der BuWiN 2021 fest, dass es nicht nur einen Gap zwischen Männern und Frauen in der Wissenschaft gibt, sondern dass weniger Wissenschaftler:innen Kinder groß ziehen, als dies Hochschulabsolvent:innen tun, die nicht mehr im akademischen Umfeld arbeiten. Verglichen mit Daten aus dem Mikrozensus liegt der Anteil von Hochulabsolvent:innen unter 35 Jahren mit Kindern außerhalb der Wissenschaft bei 20%, innerhalb (Promovierende) bei bei nur 9,9%. Bei den Hochschulabsolvent:innen unter 45 Jahren liegt der Anteil mit Kindern außerhalb der Wissenschaft bei 54%, innerhalb (Promovierte) bei nur 37% (vgl. S. 167). Darüber hinaus ließ sich in der Wissenschaft ein weiterer Geschlechterunterschied beobachten, der zeigt, wie viel stärker das akademische Prekariat die Lebensplanung von Frauen trifft: So gelänge es „Männern sehr viel häufiger als Frauen […], die Familiengründung nach der Erlangung einer Professur ‚nachzuholen‘“ (S. 163).

In Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit und Sorgetätigkeiten fällt auf, dass die Themen „Homecare und Eldercare“ zwar im Kontext des Pakts für Forschung und Innovation im Zusammenhang mit der Familienfreundlichkeit der außeruniversitären Forschungseinrichtungen diskutiert werden (S. 171) – jedoch fehlen bisher statistische Daten zur Vereinbarkeit von Wissenschaft und Pflege. Unklar ist auch, ob und wie im BuWiN 2021 Personen zahlenmäßig beachtet werden, die sich jenseits der geschlechterbinären Matrix verorten.

3.2 Blinde Flecken bei den Themen der Karrierebenachteiligung durch Rassismus, Behinderung und Herkunft aus einem nicht-akademischen Elternhaus

Der BuWiN 2021 enthält ein ganzes Kapitel (B7) zum Vergleich der internationalen Mobilität von Wissenschaftler:innen und das Verhältnis von deutschen und nicht-deutschen Wissenschaftler:innen an Universitäten, Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Hier lässt sich beobachten, dass der Anteil an nicht-deutschen Wissenschaftler:innen an Universitäten im Zeitraum 2010 bis 2018 von 10% auf 12% zugenommen hat (S. 181). In den außeruniversitären Forschungseinrichtungen ist der Anteil an nicht-deutschen Wissenschaftler:innen deutlich höher (26% in den Helmholtz-Zentren, 50% in den Instituten der Max-Planck-Gesellschaft, S. 182).

Im BuWiN wird thematisiert, dass es noch keine verlässlichen Daten dazu gibt, ob und wie internationale Mobilität in früheren Karrierephasen fördert oder behindert (vgl. S. 184). Vor dem Hintergrund der aus der Türkei nach Deutschland geflohenen Wissenschaftler:innen, die zum Beispiel über die Phillip Schwartz-Initiative ein zeitlich begrenztes Stipendium erhielten, wäre darüber hinaus auch eine Erhebung relevant, wie aufnahmefähig das deutsche Wissenschaftssystem für Kolleg:innen im Exil ist.

Blinde Flecken zeigt der BuWiN in der Frage, wie vielen Wissenschafter:innen of Color es gelingt, in Deutschland a) im Wissenschaftssystem zu arbeiten und b) eine dauerhafte Anstellung zu erlangen. Hier wären Erkenntnisse für den nächsten BuWiN wünschenswert.

Erwähnung findet im BuWiN die Tatsache, dass es bisher kaum Daten über die Chancen von Wissenschaftler:innen mit Behinderungen auf eine Professur gibt (S. 59). Auch hier wären statistische Erkenntnisse für den nächsten BuWiN wünschenswert.

Das Thema der Karrierebeeinflussung durch die Herkunft aus den gehobenen Klassen wird zwar erwähnt, jedoch reduziert auf einen akademischen Abschluss der Eltern (S. 58 und 227), den heute die Mehrheit der Bevölkerung hat und der allein, neueren Forschungen zufolge, sehr viel weniger entscheidend ist als allgemeiner die Zugehörigkeit zu den oberen gesellschaftlichen Klassen. Jedoch fehlen präzise Daten zum Anteil von Wissenschaftler:innen und deren Entfristungen (durch Professur) aufgeschlüsselt nach der sozialen Herkunft.

Alles in allem lässt sich zum Thema Intersektionale Gerechtigkeit zusammenfassen, dass die Datenlage hier deutlich ausgebaut werden sollte, um das Wissenschaftssystem auch in Hinblick auf Chancengleichheit bewerten zu können (vgl. die NGAWiss-Forderung Nr. 5 zum Abbau von Ungleichheiten und Diskriminierung).

4. Neue Perspektiven im BuWiN 2021?

Der grundlegende Ansatz des BuWiN ist, die Situation von ‘Nachwuchs’wissenschaftler:innen auf Grundlage statistischer Daten, Forschungsbefunde und ergänzender Studien aufzubereiten und langfristige Entwicklungen darzustellen. (S. 69f.)

Neu daran ist: 1) Durch das novellierte Hochschulstatistikgesetz (HStatG) 2016 stehen umfassendere Hochschulstatistiken zur Verfügung, wodurch nun möglich ist, promovierte und nicht-promovierte Wissenschaftler:innen separat zu betrachten. Außerdem ermöglichen ergänzende Studien zum wissenschaftlichen Nachwuchs (NACAPS und KOAB) ausdifferenzierte Daten.

2) Eine neue Datengrundlage zur Bewertung der Karriereverläufe Promovierter bilden „Integrierte Erwerbsbiografien“ (S. 34), aus denen umfassende Aussagen zu Beschäftigungssektor und Erwerbsstatus erfasst werden konnten (vgl. Kapitel C2). Daraus leitet der BuWiN 2021 eine „sehr gute Beschäftigungsperspektive“ ab, indem die ermittelte Arbeitslosenquote  unter 2% und ein hohes Maß an Vollbeschäftigung (80% ein Jahr nach Abschluss der Promotion) bestünden (S. 34). Allerdings sind diese Jobaussichten vor allem abseits wissenschaftlicher Beschäftigungen an Hochschulen und AUF zu finden. Ein Jahr nach der Promotion sind lediglich 30%, zehn Jahre danach nur noch 22% im öffentlichen Wissenschaftsbetrieb beschäftigt. Diese zusätzlichen Daten dienen dem Themenschwerpunkt 2021, sollten also nicht als dauerhafte Kategorien des Berichts analysiert werden. Aber genau diese Auswertungsmerkmale sollten im BuWiN verstetigt werden, um die langfristige Entwicklung von  Qualifikationsphasen auf anschließende Beschäftigungen inner- und außerhalb des Wissenschaftssystems betrachten zu können.

Der Bericht differenziert kritisch den Zugang und die Vergleichbarkeit der Datengrundlagen (vgl. Kapitel A4.3). So hat der BuWiN weniger Aussagekraft zu den Bedingungen an den AUF, denn die GWK (Gemeinsame Wissenschaftskonferenz) als Fördergeber aus Bund und Ländern stellt im jährlichen Pakt-Monitoring nur beschränkt Datenmaterialien (2019 und 2020) zur Verfügung. Das stellt insofern ein Problem dar, als die AUF einen Schwerpunkt in der Förderung wissenschaftlichen Nachwuchses setzten und 2019 ganze 20.000 Promotionen betreuten (S. 44) – Tendenz weiter steigend (Zielsetzungen des PFI IV, 2021-2030).

Wo bleiben Fragezeichen? 1) Wie bereits in den beiden Vorgängerberichten 2013 und 2017 klammert der BuWiN die Verlaufsperspektive (zu Bildungs- und Karriereverlauf) für nicht-professorale Wissenschaftler:innen aufgrund der inkonstanten Datenbasis – einmaliger Studien, nicht-repräsentativer Datenquellen oder variierender Kategorien – aus. 2) Informationen zu Promovierenden, die einerseits in der Privatwirtschaft, an privaten Hochschulen oder außerhalb von Hochschulen und AUF beschäftigt sind (durch Stipendien und abseits strukturierter Programme), liegen nicht vor – lassen sich also nicht als Vergleichsgruppen heranziehen. Diesem blinden Fleck muss dringend durch eine dichtere Datengrundlage entgegengewirkt werden, verortet der BuWiN doch den Anteil strukturierter Promotionen zwischen 19 und 42% (auf Grundlage verschiedener Befragungsmethodiken, vgl. S. 130f.).

Wir halten fest: definitiv haben sich die Analysekategorien im Vergleich zu den Vorgängerberichten 2013 und 2017 erweitert zugunsten differenzierterer und aussagekräftigerer Befunde. Verbesserte und stärker ausdifferenzierte Erhebungen ab 2019 versprechen für den nächsten Bericht 2025 eine fundiertere Datenqualität. Aussagen zur langfristigen Entwicklungen von Chancen und Bildungsverläufen sind wünschenswert und würden eine fundierte Grundlage zur Debatte um  das Wissenschaftssystem liefern.

5. Auswirkungen von Corona im BuWiN 2021

Um das Thema der Corona-Pandemie kommt auch der BuWiN 2021 nicht herum. Der Bericht betont die besonders großen Einschränkungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs, die Gefährdung des Abschluss von Qualifikationsarbeiten, die Verringerung von Stipendien- und Qualifizierungsstellen und fehlende Netzwerk- und Austauschmöglichkeiten (S. 235). Mantraartig wird auf das Zugeständnis der Bundespolitik an die befristet beschäftigten Wissenschaftler:innen verwiesen: die pandemiebedingte Erweiterung des WissZeitVG um §7 Abs. 3. Demnach sind Verlängerung des Beschäftigungsverhältnissen, die im Zeitraum 1. März 2020 bis 30. September 2020 sowie in den weiteren Pandemiemonaten bestehen und die der Qualifizierungen dienen, um zwei Mal sechs (also insgesamt 12 Monate) möglich. Des Weiteren werden im BuWiN 2021 die unterschiedlichen – und hierin deuten sich bereits Schwierigkeiten an – Strategien der Förderorganisationen (DFG, DAAD, etc.) erläutert, um pandemiebedingte Verzögerungen für projektfinanzierte Angestellte auszugleichen.

Der BuWiN 2021 nimmt eine kritische Einordnung dieser Maßnahmen in die tatsächliche Förderpraxis vor. Er verweist bspw. auf die Forderungen der GEW zum verbindlichen Anspruch der Vertragslaufzeit aller (!) befristet Beschäftigten um 12 Monate (S. 236). Weiterführende Möglichkeiten aus aktuellen Diskussionen – wie weitere Vertragslaufzeit-Verlängerungen für Eltern (http://mehrbelastung.de/) und besondere Regelungen für Wissenschaftler:innen mit Vorerkrankungen – werden nicht mit einbezogen.

In Bezug auf die Digitalisierung der Lehre zeigt der BuWiN 2021 den Mehraufwand für die kurzfristige Anpassung von Lehrinhalten und Prüfungsformen auf, sowie damit zusammenhängende „zeitliche Verzögerungen in der Forschung und damit auch der wissenschaftlichen Qualifizierung“ (S. 238). Aber der Eindruck, dass bei ausreichender Vorlaufzeit zur Umstellung digitaler Lizenzen, Infrastrukturen und Didaktik ein adäquater Online-‚Normalzustand‘ hergestellt hätte werden können, verfehlt den Kern des Problems:

Wie wir bereits in unseren Positionen „Solidarisch durch die Krise I, II und III“ forderten, blieben die psychischen An- und Überforderungen im Umgang mit der Pandemie deutlich unterthematisiert. Die Anforderungen an Lehrende, Forschende und Studierende vervielfachten sich durch Homeoffice, private Lebens- und Fürsorgesituationen, Mehrkosten, Existenzängste durch Lockdown-bedingte Jobverluste und natürlich Gesundheitsrisiken.

Es mag sein, dass die Datengrundlagen über Aussagen langfristiger Folgen im Moment noch ungenügend bzw. bisher wenig aussagekräftig sind. Dennoch erweckt der BuWiN 2021 den Eindruck, dass die aktuellen Maßnahmen von Bund, Fördereinrichtungen und Hochschulen ausreichend wären, um die neuen Herausforderungen zufriedenstellend anzugehen. Wir verweisen hier, diesen Eindruck kontrastierend, nur auf den Beschluss der Bundesregierung im August 2020, der ausländischen Erstsemester-Studierenden keine Visa erteilen wollte, wenn keine Teilnahme an Präsenzveranstaltungen nachgewiesen werden konnte (https://www.tagesspiegel.de/wissen/studium-in-der-coronakrise-keine-visa-fuer-onlinestudium/26094932.html).

Auf die besondere Situation von Lehrbeauftragten und sonstigen Honorarkräften wie auch Promotionen außerhalb strukturierter Promotionskontexte nimmt der BuWiN 2021 keinen Bezug.

6. Fazit: Es braucht nicht nur bessere Zahlen, sondern auch alternative Personalmodelle

Der BuWiN bestätigt vieles, was wir bereits aus Vorgängerberichten wissen. Die Zahl der befristet Beschäftigten jenseits der Professur ist mit 92% ungebrochen hoch. Zugleich gibt es viele blinde Flecken, die wir in diesem Kommentar – sicherlich nicht abschließend – aufgezeigt haben. Wir fordern daher für die nächste Berichterstattung zu Situation der Nicht-Professor:innen an Universitäten, Hochschulen und Außeruniversitären Forschungseinrichtungen:

  • Daten über die Situation von Promovierenden und Habilitierenden, die sich über Stipendien finanzieren sowie sich in nicht-strukturierten Verfahren qualifizieren.
  • Die Erweiterung um Daten, die mögliche Benachteilungen von Akademiker:innen durch Behinderungen, Rassismus oder ein nicht-akademisches Elternhaus aufzeigen können.
  • Die Beachtung des dritten Geschlechts bei der Datenerhebung und -auswertung.

Um die Zahlen des BuWiN auch international mit anderen Hochschulsystemen und deren Personalstrukturen besser vergleichen zu können, wäre es weiterhin wünschenswert, eine Gesamtaufschlüsselung von be- und entfristetem Personal (also: inclusive der Professuren) zu erhalten. Als Orientierung kann der Vorschlag von Reinhard Kreckel (2016, S. 19) dienen.

Der Ausblick heißt daher: Wir brauchen nicht nur nur Zahlen und bessere Zahlen (vgl. unsere Kritik an der Evaluation der WissZeitVG-Novelle und den Hinweis auf unsere eigene Evaluation) zur Situation der Beschäftigten im akademischen Betrieb. Wir brauchen auch handfeste Konzepte für bessere Personalstrukturen an Universitäten, Hochschulen und Außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Wir haben mit dem Diskussionspapier zur Alternativen Personalmodellen einen konkreten Vorschlag für Universitäten gemacht. Nicht nur die Diskussion um, sondern auch mutige Schritte zur Umsetzung von gerechten und fairen Personalstrukturen können beginnen.

Kommentar zum Diskussionspapier „Personalmodelle für Universitäten in Deutschland. Alternativen zur prekären Beschäftigung“

 

PHILOSOPH UND MITTELBAUVERTRETER DGPHIL DR. DANIEL KERSTING

Das vorliegende Diskussionspapier ergänzt die bisher geführte Debatte um Personalmodelle an Universitäten in Deutschland um mindestens drei wichtige Punkte: Es räumt erstens das verbreitete Bedenken aus, Entfristungspolitik ginge grundsätzlich zulasten folgender Generationen, weil für diese nicht mehr genügend Stellen frei würden. Demgegenüber zeigen die Rechnungen: auch Dauerstellen-Modelle ermöglichen viele Neuzugänge; sie schaffen – zumindest dann, wenn von einer deutlich geringeren Zahl an Promovierenden ausgegangen wird – bessere Anschlussmöglichkeiten, erzwingen also weniger Ausstiege aus der Wissenschaft. Zweitens erweitert das Papier die bisherige Diskussion, die sich in den letzten Jahren vor allem auf das Tenure-Track-Modell fokussiert hat, um neue Entfristungsperspektiven und zeigt damit klar: Es gibt weit mehr als eine gute Alternative zum Status quo. Schließlich berücksichtigt das Papier drittens bei der inhaltlichen Diskussion der Vor- und Nachteile der Modelle neben quantitativen Aspekten auch qualitative Gesichtspunkte: Die Autor*innen fragen weniger danach, wie viel Arbeitskraft die jeweiligen Modelle für Drittmittelakquise oder internationale Wettbewerbsfähigkeit freisetzen. Ihr Fokus liegt eher darauf, ob die entsprechenden Personalreformen sozial integrativ oder exkludierend wirken würden, wie anfällig sie für die Entstehung neuer Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse wären und ob sie dabei helfen könnten, strukturelle Diskriminierung in den Wissenschaften abzubauen. Damit macht das Papier auf eine gesellschaftliche Dimension unserer Diskussion um Personalmodelle aufmerksam und erinnert an die gesellschaftspolitische Verantwortung der Hochschulen.

Wirft man unter dieser Perspektive einen vergleichenden Blick auf die vorgestellten Modelle, kommen u.a. folgende Aspekte in den Blick: Professurenzentrierte Modelle wie das Tenure-Track-Modell (hier Variante B) oder das reine Professuren-Modell (Variante D) schaffen größere Gleichheit und damit möglicherweise auch mehr Gleichberechtigung innerhalb des Kollegiums, indem sie auf die Abschaffung des (abhängig beschäftigen) Mittelbaus zielen und allen wissenschaftlich Beschäftigten nach der Promotion selbständige Forschung und Lehre ermöglichen. Sieht man einmal von der Abhängigkeit ab, in der jene stehen, die sich noch auf dem „Track“ befinden, sind diese Modelle in Sachen Autonomie und Egalität unschlagbar. Auf der anderen Seite verlangen sie den Individuen aber auch eine ganze Reihe von Anpassungsleistungen ab: ein System, das mit weniger Personal auskommt und alle Karrierewege auf die Professur konzentriert, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit kompetitiver und sozial selektiver als ein System mit heterogenen Stellenprofilen und quantitativ mehr Stellen. Bildungsbiographien würden dadurch noch stärker normiert als bisher und Diversität an der Hochschule faktisch abgebaut. Das Lecturer-Modell oder verwandte Modelle haben diese Konsequenzen nicht, weil sie mit Dauerstellen jenseits der Professur unterschiedliche Beschäftigungsmöglichkeiten bieten und damit auch eine größere Pluralität an Berufsbiographien zulassen. Dafür sind sie anfälliger für die Bildung neuer Hierarchien, in denen unliebsame Aufgaben leichter ‚nach unten‘ gereicht werden können und sich längerfristig auch eine Kluft zwischen reinen Lehrstellen und reinen Forschungsstellen herausbilden könnte.

Aus der Antizipation solcher möglichen Konsequenzen folgt freilich noch nicht unmittelbar, welches Modell das bessere ist. Das ist eine evaluative Frage, deren Beantwortung auch politische und ethische Wertentscheidungen einschließt: etwa darüber, ob man ein kleines, gleichberechtigtes, aber dafür tendenziell elitäreres Institut für wünschenswert erachtet, oder ein größeres Institut mit einer heterogeneren Personalstruktur. Oder darüber, ob wir Hochschulen primär als „Forschungsstandorte“ verstehen möchten, an denen unter marktförmigen Bedingungen Wissen produziert wird, oder als Bildungsinstitutionen, die Individuen in umfassende (Selbst-)Bildungsprozesse einbinden – Prozesse, die letztlich auch für den Erhalt einer lebendigen Demokratie unverzichtbar sind.

Natürlich sollte der Streit um das „richtige“ Modell die gemeinsamen Bemühungen um eine Verbesserung der Situation an den Universitäten nicht spalten. Bei allen Unterschieden im Detail verfolgen doch alle Modelle das Ziel, möglichst vielen nach der Promotion eine unbefristete Anstellung zu ermöglichen. Politisch erscheint es sinnvoll, dieses gemeinsame Ziel immer wieder ins Zentrum von Debatten und Verhandlungen zu stellen. Möglicherweise zeigt sich in der Umsetzung, dass gerade mit Blick auf Interessensgegensätze Lecturer-Modelle anderen Modellen gegenüber überlegen sind, weil sie flexibler ausgestaltet werden können und dadurch leichter als andere Modelle Kompromissbildungen ermöglichen. Dies wird freilich die weitere Diskussion zeigen müssen, die nun vor allem an den Instituten und Fachbereichen vor Ort zu führen wäre – unter Einbeziehung aller Interessens- und Statusgruppen und unter Berücksichtigung der jeweiligen institutionellen Bedingungen und Fachkulturen.

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