Scheinwahrheit Nr. 10a: Wenn man hinschaut, wer für #IchbinHanna eintritt, sieht man, dass das nur die Geisteswissenschaften betrifft. Es gibt offensichtlich zu viel Nachwuchs in diesen Fächern.
17278
ufaq-template-default,single,single-ufaq,postid-17278,bridge-core-3.0.9,qode-page-transition-enabled,ajax_fade,page_not_loaded,,qode-title-hidden,transparent_content,qode-child-theme-ver-1.0.0,qode-theme-ver-29.7,qode-theme-bridge,qode_header_in_grid,wpb-js-composer js-comp-ver-6.13.0,vc_responsive

Scheinwahrheit Nr. 10a: Wenn man hinschaut, wer für #IchbinHanna eintritt, sieht man, dass das nur die Geisteswissenschaften betrifft. Es gibt offensichtlich zu viel Nachwuchs in diesen Fächern.

Link zur Scheinwahrheit kopieren.

 

Dieser mutwillig erzeugte Eindruck lässt sich weder anhand der #IchbinHanna-Aktiven auf Twitter noch anhand von Umfragen verifizieren; darin zeigen sich MINT-Wissenschaftler:innen genauso von der Notwendigkeit überzeugt, Befristungen zu begrenzen, wie die übrigen (Gleirscher et al., Mittelbau, Abb. 5). Denn es geht um ein alle Fächergruppen gleichermaßen betreffendes strukturelles Problem: Laut Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs (BuWiN 2021, Abb. B31) sind 83% der Geisteswissenschaftler:innen zwischen 35 und 45 Jahren sowie 82% der Naturwissenschaftler:innen im selben Alter befristet beschäftigt. Dieser Gleichstand belegt, dass die prekäre Arbeits- und Lebenssituation des Mittelbaus die Geistes- und Naturwissenschaften vereint. Auch Gruppierungen wie N2 Network of Doctoral Researcher Networks und Max Planck PostDocNet sehen, dass in den hier stark vertretenen naturwissenschaftlichen Fächern Reformbedarf besteht. Mit dem überbordenden Befristungsanteil gehen dysfunktionale Strukturen einher, die auch von Naturwissenschaftler:innen moniert werden – etwa, dass die Wissenschaft selbst unter durch existenzielle Abhängigkeiten beförderten steilen Hierarchien sowie kurzatmiger Projektforschung leidet. Deutlichstes Indiz für den Schaden, der aus der von Selektionsdruck und Prekarisierung beförderten Hyperproduktivität folgt, ist die weithin konstatierte Replikationskrise, die offensichtlich nur experimentelle Wissenschaften betrifft (vgl. auch Scheinwahrheit 8a).

 

„Es genügt doch ein Blick in den „Bundesbericht wissenschaftlicher Nachwuchs“, um festzustellen, dass Hannas Probleme größtenteils für Geisteswissenschaftler zutreffen, die keine Lehrer werden wollen. In vielen Fächern vor allem aus dem MINT-Bereich, aber nicht nur dort, herrscht ein Mangel an qualifiziertem Nachwuchs an den Hochschulen, kein Überschuss.“

Gerald Wagner, Wie ist die Verwertungslogik doch grausam. Jetzt aber bitte mal her mit den Philosophielehrstühlen: Akademischer Nachwuchs steigt auf die Barrikaden, FAZ, 1.4.2022

 

Mit der Behauptung, dass sich hauptsächlich Geisteswissenschaftler:innen über prekäre Arbeitsbedingungen beschwerten, wird suggeriert, dass das Problem von #IchbinHanna im Mangel an Alternativkarrieren für aussortierte Wissenschaftler:innen und eben nicht darin bestünde, dass Beschäftigte systematisch und unabhängig von Fach und Disziplin in permanenter Unsicherheit gehalten und schließlich größtenteils wegselektiert werden. Das Grundproblem ist in den Geistes- und Naturwissenschaften dasselbe; lediglich einige seiner Auswirkungen sind komplementär: Während Geisteswissenschaftler:innen überqualifiziert auf einen kaum vorhandenen fachnahen Arbeitsmarkt abgeschoben werden, verlassen in den Natur- und Technikwissenschaften die Beschäftigten die Universität nicht selten wegen besserer Optionen in der freien Wirtschaft. Man kann somit bereits von einem wissenschaftlichen „Brain Drain“ in den MINT-Fächern sprechen. Das „Bestenauslese“-Narrativ (vgl. Scheinwahrheit 5a) klingt an dieser Stelle besonders hohl: Prekarität ist unattraktiv, wenn sich sichere und zugleich forschungsnahe Jobs in der freien Wirtschaft bieten. Wer aber für die vom WissZeitVG zugestandenen zwölf Jahre bleibt, wird – zumal wenn er oder sie nicht anwendungsnah geforscht hat – feststellen, dass eine lange Wissenschaftslaufbahn auch bei Naturwissenschaftler:innen nicht als ideale Qualifikation für den allgemeinen Arbeitsmarkt gilt (siehe hierzu Einschätzungen eines Verfahrenstechnikers und eines Physikers auf Twitter). Auch in diesen Fächern werden also letztlich Idealismus und Begeisterung für das eigene Fach über lange Jahre ausgenutzt – was auch hier bedeutet, dass Lebens- und Familienplanung unmöglich gemacht werden. Am meisten befremdet an der oben zitierten Behauptung allerdings die Selbstverständlichkeit, mit der das Prekaritätsproblem auf Arbeitsmarktfragen reduziert wird, während die Frage, welche institutionellen Strukturen der Wissenschaft förderlich sind oder nicht, offenbar keine Relevanz hat (siehe auch Scheinwahrheit 2a und 2b). In solch einem instrumentalistischen Verständnis wird jegliche, auch die naturwissenschaftliche Forschung nur noch am Maßstab ihrer Wirtschaftskonformität gemessen.

 

Niemand unter denen, die die obige Behauptung vorbringen, scheint dagegen auf den Gedanken zu kommen, dass Geistes- und Sozialwissenschaftler:innen hier besonders hörbar sind, weil es zu ihrem Selbstverständnis und ihrer Aufgabe gehört, gesellschaftliche Entwicklungen kritisch zu begleiten und dabei fadenscheinige Argumentationen zu erkennen und zu entlarven – also genau das zu tun, wofür sie aus guten Gründen kompetent gemacht wurden. Die Gesellschaft braucht kritische Wissenschaften – und nur, wer das versteht, wird kritische Nachfragen nicht mit Platitüden abbügeln.

 

„Frau Kunst, Sie kommen ja selber […] eher aus den Naturwissenschaften, würden Sie auch sehen: Das ist ein geisteswissenschaftliches Problem?“ – „Ja.“

Die ehemalige Präsidentin der Berliner Humboldt-Universität Sabine Kunst im Gespräch mit Bettina Köster (DLF), ab Minute 45.10

 

Insofern drängt sich der Verdacht auf, dass sich in der Aussage, nur die Geisteswissenschaften hätten mit dem Problem der Prekarität zu tun, eine doppelte Absicht verbirgt: zum einen, die weit verbreitete Abwertung der Geisteswissenschaften als unproduktives Feld zu verstärken, zum anderen, die #IchbinHanna-Bewegung in zwei Wissenschaftskulturen zu spalten und sie dadurch zu schwächen. Statt Geisteswissenschaftler:innen faire Arbeitsverhältnisse zu verweigern und zu suggerieren, der Arbeitsmarkt beweise, dass es zu viele von ihnen gäbe – gröber formuliert: statt die Geisteswissenschaftsverachtung von Twittertrollen für den Diskurs des Hochschulmanagements hoffähig zu machen –, sollten Hochschulleitungen es als Alarmzeichen für die demokratische und kulturelle Zukunft unserer Gesellschaft sehen, dass deren Prekarisierung auch in anderen Bereichen (Journalismus, Museen, Stiftungen usw.) voranschreitet. Sie sollten diese Entwicklung also nicht, wie aktuell, selbst noch befördern, indem sie sie im Vergleich zu Naturwissenschaftler:innen zu deutlich schlechteren Bedingungen (wie mehr Teilzeitbeschäftigung, geringere Entfristungsaussichten) anstellen. Denn selbst wenn die Forderungen von #IchbinHanna wirklich nur von Geisteswissenschaftler:innen erhoben würden, wären sie um nichts weniger legitim (vgl. auch Scheinwahrheit 6a).

 

Literatur:
– Bundesbericht wissenschaftlicher Nachwuchs, Statistische Daten und Forschungsbefunde zu Promovierenden und Promovierten in Deutschland, hrsg. vom Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs, Bielefeld 2021, https://www.buwin.de/buwin-2021.
– Gleirscher, Mario, Lenk, Kerstin, Loebel, Jens-Martin, Petersen, Tom und Johannes Wagner, Wie geht es dem akademischen Mittelbau? Eine Umfrage, in: Informatik Spektrum 45 (2022), S. 246–258, https://doi.org/10.1007/s00287-022-01479-8

 

Zurück zur Übersicht ‘Argumentationshilfen’