Scheinwahrheit Nr. 8b: Das deutsche Wissenschaftssystem war verkrustet und nicht mehr innovativ. Erst die Wettbewerbe haben es belebt und wieder konkurrenzfähig gemacht.
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Scheinwahrheit Nr. 8b: Das deutsche Wissenschaftssystem war verkrustet und nicht mehr innovativ. Erst die Wettbewerbe haben es belebt und wieder konkurrenzfähig gemacht.

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Dieser Vorstellung verdankt das derzeitige deutsche Wissenschaftssystem eine Förderstruktur, in der Bundesmittel zu einem sehr großen Teil etwa an die DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) umgeleitet werden, statt sie direkt an die Hochschulen zu verteilen. Die DFG, mit ca. 3,3 Milliarden Euro pro Jahr die größte Drittmittelgeberin an deutschen Hochschulen (Stand 2019, siehe DFG, Förderatlas 2021, S. 23 und 26), vergibt ihre Mittel wettbewerbsorientiert, u. a. im Rahmen der Exzellenzstrategie. Diese Förderstruktur versteht sich als kompetitiver Ansporn zu Höchstleistungen.

 

„Wenn Sie Forscher sind, dann haben Sie Lust, erster zu werden. Wissenschaft heißt Dinge entdecken oder erfinden, die andere nicht gemacht haben. Das ist per Definition eine Art Wettkampf.“

Antoine Petit, Direktor des CNRS, in Le Monde (14.2.22)

 

Praktisch bedeutet diese Struktur jedoch vor allem einen immensen Verbrauch von Arbeitsressourcen, die allein in das Verfahren fließen zu den Folgen der Wettbewerbslogik für die Qualität von Forschung vgl. Scheinwahrheit 8a). Denn Arbeitszeit und Geld werden nicht nur für die Vorbereitung und die Verwaltung dieser Anträge aufgewendet. Zusätzlich werden jährlich 15.000 Wissenschaftler:innen als Gutachter:innen (ebd., S. 26) unbezahlt beschäftigt, um die eingegangenen Anträge zu bewerten. Diese Zeit fehlt für die eigentliche wissenschaftliche Arbeit. Darüber hinaus wird die weit überwiegende Mehrzahl der Anträge zunächst abgelehnt; dass dies trotz enormem Mittelaufwuchs in zunehmendem Maße geschieht (siehe Finetti, Drittmittel-Druck sowie die Förderquote der DFG; vgl. auch Böhmer et al., Wissenschaftler-Befragung 2010, bes. Kap 3), lässt sich dadurch erklären, dass die Anreize, Drittmittel einzuwerben, überproportional gewachsen sind: einerseits durch die W-Besoldung für Professor:innen, die Leistungszulagen oft an deren Drittmittelerfolg bindet, andererseits durch die Menge prekären Personals, das versucht, sich weiterzufinanzieren. Da die Förderquoten diesem künstlich geschaffenen Bedarf nicht entsprechen können, zwingt dies Förderinstitutionen dazu, auch qualitativ hervorragende Forschungsprojekte abzulehnen, selbst wenn überwiegend oder sogar ausschließlich Gutachten vorliegen, die eine Förderung empfehlen. Deswegen und weil die Laufzeiten der Förderungen heutzutage in der Regel nicht mehr den nötigen Bearbeitungs- oder Qualifizierungszeiten entsprechen (laut DFG, Sprint, ist bspw. eher von fünf als von drei Jahren für die Promotion auszugehen) müssen sich Wissenschaftler:innen oft mehrmals während eines laufenden Projektes um eine Finanzierung bewerben. Dies kostet sie einen immensen Teil ihrer Arbeitszeit und -kraft, die nicht mehr für Forschung und Lehre zur Verfügung stehen. Berechnungen zeigen, dass sich die kollektiv für die Bewerbungen aufgebrachten Ressourcen oft nicht einmal mit den einzuwerbenden Mitteln decken, sondern signifikant darüber liegen. Dass Erfolgschancen inzwischen derart gering sind, dass sie der Qualität der Anträge gar nicht mehr gerecht werden können, macht Drittmitteleinwerbungen zu einer „ineffektiven Lotterie“ (Dresler, M. et al., Funding Schemes, S. 607). Die Fixierung auf Wettbewerbserfolge ist innerhalb des deutschen Wissenschaftssystems inzwischen so groß, dass Förderungen immer häufiger gar nicht mehr zur Umsetzung von Forschungsvorhaben, sondern zur Erarbeitung von Anträgen auf Forschungsförderung, also für das Bewerben selbst vergeben werden; dieses Phänomen reicht von Stipendien zur Erarbeitung individueller DFG-Förderungen bis hin zu Förderlinien zur Erarbeitung von Gruppenprojekten wie etwa Anträgen auf ERC-Grants. Mit anderen Worten, unser Wissenschaftssystem verhält sich, als seien nicht Forschung und Lehre sein Produkt, sondern Wissenschaftskarrieren im Modus des Spielerglücks: Ein Geldeinsatz für den noch so unwahrscheinlichen Hauptgewinn wird als lohnend betrachtet, das schlichte Vergüten von Arbeit dagegen nicht.

 

Die deutsche Wissenschaft wurde von den Wettbewerben in einer Form ‚belebt‘, deren Schädlichkeit offenkundiger ist als ihr Nutzen. Das betrifft zunächst die Produktivität der Beschäftigten: Wer sich einer Situation völliger Beliebigkeit in der Abfolge von Anstellungsverhältnissen, Projektfinanzierungen oder langfristigen Karriereaussichten gegenübersieht, wird entweder in der Durchführung innovativer Forschung behindert werden, weil langfristige und eigenwillige Vorhaben mit dieser Lage nicht kompatibel sind, – oder wird Risikobereitschaft in Bezug auf die Forschung zurückstellen, weil Mainstream-Forschung die Chancen auf materielle Sicherheit erhöht, wenn Fachkolleg:innen alle paar Jahre über sein oder ihr Fortkommen entscheiden (vgl. Scheinwahrheit 5b). Unter solchen Abhängigkeiten leidet deshalb auch die Wissenschaftsfreiheit.

 

Zusätzlich wird Wissenschaftsfreiheit dadurch eingeschränkt, dass manche Förderinstitutionen thematische Grundlinien festschreiben; das ist etwa bei BMBF-Ausschreibungen und bei Fördermitteln der Fall, die von der Industrie vergeben werden. So plausibel bestimmte thematische Zuschnitte auf den ersten Blick erscheinen – sie führen zu einer Einengung von Forschungsfeldern und folglich zu einem Verlust von Diversität. Denn solche Entscheidungen antworten selten auf den intrinsischen Bedarf der Wissenschaft, sehr viel öfter dagegen auf die Forderung nach Verwertbarkeit und schnellem Impact von Forschung. Die aktuelle Förderpolitik des BMBF, das im Sommer 2022 ganze Förderlinien zunächst strich und erst nach lautem Protest Betroffener teilweise weiterführte, lässt erkennen, in welchem Maße Wissenschaftsfreiheit dem Belieben politischer Interessen unterworfen werden kann. Wenn sogar laufende Förderungen und bewilligte Forschungsgelder wieder zur Disposition gestellt werden können, also die Integrität des Verfahrens selbst nicht mehr verlässlich

 

Zynisch wirkt die Behauptung, der Drittmittelwettbewerb wirke sich förderlich auf die wissenschaftliche Produktivität aus, schließlich mit Blick auf das betroffene Personal selbst, für das die davon geprägten institutionellen Strukturen mit besonders unsicheren Karriereaussichten einhergehen. Denn der Pool der befristet Beschäftigten wurde dadurch massiv erhöht, während die Zahl der sicheren Stellen, auf die man hinarbeiten könnte, kaum gestiegen ist (vgl. BuWiN 2021, S. 99, 101, sowie Dohmen/Wrobel, Entwicklung). Wie gegenwärtige Studien aufzeigen, führen Unsicherheit und Druck am Arbeitsplatz zu einer Reduzierung der emotionalen Stabilität, der Sozialverträglichkeit und der Gewissenhaftigkeit bei der Arbeit; nicht selten führen Stressbelastung und Ängste auch zu psychischen Erkrankungen und damit Arbeitsausfällen (vgl. z. B. Wu, C.-H. et al., Effects und Klug, Young and at risk). Bereits jetzt sind etwa Nachwuchswissenschaftler:innen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung sechsmal stärker gefährdet, an einer Depression oder Angststörung zu leiden (Evans et al., Evidence; vgl. auch Scheinwahrheit 4a). Festhalten lässt sich, dass Personen unter individuellem Prekarisierungsstress von den Wettbewerben sicherlich nicht belebt werden.

 

Literatur:
– Böhmer, Susan, Neufeld, Jörg, Hinze, Sybille, Klode, Christian und Stefan Hornbostel, Wissenschaftler-Befragung 2010: Forschungsbedingungen von Professorinnen und Professoren an deutschen Universitäten, iFQ-Working Paper 8 (2011), http://www.forschungsinfo.de/Publikationen/Download/working_paper_8_2010.pdf [zu Antragsaktivität und Antragserfolg].
– Bundesbericht wissenschaftlicher Nachwuchs, Statistische Daten und Forschungsbefunde zu Promovierenden und Promovierten in Deutschland, hrsg. vom Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs, Bielefeld 2021, https://www.buwin.de/buwin-2021. [zum Verhältnis der Stellen].
– DFG, Förderatlas. Kennzahlen zur öffentlich finanzierten Forschung in Deutschland, Bonn 2021, www.dfg.de/sites/foerderatlas2021/download/dfg_foerderatlas_2021.pdf
– DFG, Sprint oder Marathon? Die Dauer von Promotionen in DFG-geförderten Verbünden, https://doi.org/10.5281/zenodo.5520751
– Dohmen, Dieter und Lena Wrobel, Entwicklung der Finanzierung von Hochschulen und Außeruniversitären Forschungseinrichtungen seit 1995. Endbericht einer Studie für den Deutschen Hochschulverband, Berlin (FiBS), März 2018, Zusammenfassung unter: https://www.wissenschaftsmanagement-online.de/beitrag/instabile-lage-universit-ten-inzwischen-zu-50-prozent-aus-tempor-ren-mitteln-finanziert-9043
– Dresler, Martin, Buddeberg, Eva, Endesfelder, Ulrike, Haaker, Jan, Hof, Christian, Kretschmer, Robert, Pflüger, Dirk und Fabian Schmidt, Why Many Funding Schemes Harm Rather than Support Research, in: Nature Human Behaviour 6:607–608 (2022), https://doi.org/10.1038/s41562-021-01286-3
– Evans, Teresa M., Bira, Lindsey, Beltran Gastelum, Jazmin, Weiss L. Todd und Nathan L. Vanderford, Evidence for a Mental Health Crisis in Graduate Education, in: Nature Biotechnology 36 (2018), S. 282–284, https://doi.org/10.1038/nbt.4089 [zum erhöhten Risiko für psychische Erkrankungen]
– Finetti, Marco, Pressemitteilung „Von Drittmittel-Druck, Antragsflut und sekundärer Währung“, https://idw-online.de/de/news?print=1&id=559113
– Klug, Katharina, Young and at risk? Consequences of job insecurity for mental health and satisfaction among labor market entrants with different levels of education, in: Economic and Industrial Democracy 41:3 (2017), https://doi.org/10.1177/0143831X17731609
– Wu, Chia-Huei, Wang, Ying, Parker, Sharon K. und Griffin, Mark A., Effects of Chronic Job Insecurity on Big Five Personality Change, in: Journal of Applied Psychology, 105:11 (2020), S. 1308–1326, https://doi.org/10.1037/apl0000488

 

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