Scheinwahrheit Nr. 4a: Festanstellung macht faul. Wirklich produktiv sind nur Leute, die sich noch beweisen müssen.
17187
ufaq-template-default,single,single-ufaq,postid-17187,bridge-core-3.0.9,qode-page-transition-enabled,ajax_fade,page_not_loaded,,qode-title-hidden,transparent_content,qode-child-theme-ver-1.0.0,qode-theme-ver-29.7,qode-theme-bridge,qode_header_in_grid,wpb-js-composer js-comp-ver-6.13.0,vc_responsive

Scheinwahrheit Nr. 4a: Festanstellung macht faul. Wirklich produktiv sind nur Leute, die sich noch beweisen müssen.

Link zur Scheinwahrheit kopieren.

 

Wer dies ernsthaft behauptet, muss sich auch auf professoraler Ebene die Frage stellen lassen, ob er:sie sich, im Genuss des auskömmlichen Gehalts bis zur Rente, gern als „faul“ bezeichnen lassen möchte. Dies werden die Wenigsten bejahen, und sie hätten dafür auch objektiv gute Gründe: Laut einer Wissenschaftsbefragung des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) von 2016 kommen Professor:innen auf eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 55 Stunden (vgl. Ambrasat, Überstunden, S. 152). Sie liegt damit weit über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung und sogar noch leicht über der von Promovierenden und Postdocs (die respektive 13,4 und 10 Überstunden pro Woche leisten, vgl. ebd. S. 153). Wir empfehlen, in der nächsten Gesprächssituation mit einer gezielten Nachfrage an die äußernde Person zu kontern: Wieso sollte eine Festanstellung die eine Personengruppe faul machen, wenn die Zahlen für eine andere Gruppe – der sie ggf. selbst angehören – dafür sprechen, dass Festangestellte sogar noch mehr arbeiten?

 

Zweitens verdreht die Aussage den Zusammenhang von Kreativität und Risiko. Kreativität in der Wissenschaft impliziert an sich schon das Eingehen eines gewissen Risikos. Egal, wie die Beschäftigungsbedingungen aussehen: Ob der neue Forschungsansatz, die Theorieinnovation oder die Bearbeitung eines neuen Gegenstandbereiches in der Fachcommunity Anschluss finden und mit Zitationen und Prestige honoriert werden, kann nicht geplant werden. Kreative Forschung, die sich nicht einfach bewährter Methoden bedient oder lang etablierte Fragestellungen bearbeitet, bedeutete immer schon ein größeres Risiko für einzelne Forschende.

Eine Karriere als Wissenschaftler kalkuliert wahr zu machen ist nicht selbstverständlich. […] Wissenschaftler sind keine Laufbahnbeamten. […] Eine gewisse Risikobereitschaft muss schon dabei sein, sonst ist man für diesen Beruf nicht geeignet. […] Wer Sicherheit will, muss an einem Einwohnermeldeamt arbeiten.“

Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg, 1975 mit 28 Jahren zum Hochschullehrer berufen, im Podcast „Der Gipfel der Bildung“, 11. Februar 2022

 

Das innovativer Forschung inhärente Risiko einzugehen, ist aber nur möglich, wenn die Wissenschaftler:innen nicht auch noch um ihre Anstellung und ihren Verbleib in der Wissenschaft bangen müssen. Wenn ein durch wissenschaftsferne Faktoren erzeugtes Risiko besteht, sich mit 40 Jahren überqualifiziert im außeruniversitären Arbeitsmarkt eine Stelle suchen zu müssen, obwohl man für die Arbeit an der Universität zwei Jahrzehnte lang hervorragend ausgebildet wurde, dann ist es nur verständlich, dass man das Risiko innovativer Forschung nicht auch noch eingehen will. Risiko in der Wissenschaft setzt Sicherheit in der Beschäftigung voraus. 

Unsicherheit ist […] so etwas wie der Motor des Erfolgs der Wissenschaften, sowohl auf ganz allgemeiner Ebene wie auch auf Ebene der Karrieren einzelner Wissenschaftler. Denn die Unsicherheit stachelt zu Höchstleistungen an […]. Wer Wissenschaft als Beruf wählt, sollte jedenfalls die Bereitschaft haben, das über einen längeren Zeitraum zu ertragen.“

Susanne Weigelin-Schwiedrzik, ab 2011 Vizerektorin der Uni Wien, Der Standard, 29. April 2014

 

Darüber hinaus ist der Zusammenhang von Prekarität und Produktivität längst erforscht. Dass Druck nicht zu einer besseren Arbeitsleistung führt, zeigt unter anderem der Stanford-Professor für Organizational Behavior und Autor Jeffrey Pfeffer in seinem Buch Dying for a Paycheck. Als eine der größten Stressquellen und Auslöser für etwa einen Anstieg chronischer Krankheiten wird in seiner Studie der Arbeitsplatz diagnostiziert. Zufriedene Arbeitnehmer:innen (bezogen auf Betriebsklima, Tätigkeit, Work-Life-Balance, Büroausstattung, Verhältnis zu Kolleg:innen, Respekt und Anerkennung) sind Studien zufolge hingegen wesentlich kreativer und produktiver – Stress und Druck hingegen reduzieren die Produktivität (vgl. etwa Davis, Zeitmanagement). Wissenschaftler:innen gelten mit einem sechsfach höheren Risiko, an einer Depression oder Angststörung zu leiden, als besonders belastete Gruppe (Evans et al., Evidence, S. 282–284). Mit erhöhtem Druck wird die Produktivität von Arbeitnehmer:innen sogar eher gesenkt. Es kann also weder im Sinne der Institutionen noch der Wissenschaftler:innen sein, durch mangelnde Arbeitsplatzsicherheit und dadurch induzierte Ängste den Krankenstand zu erhöhen. Die Behauptung, sichere Arbeitsplätze machten faul, ist damit auch aus arbeitsethischer Sicht nicht zu akzeptieren. Sie legitimiert zudem eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung, in der befristete Arbeitsverhältnisse und die damit einhergehende Stressbelastung in den letzten dreißig Jahren immens angestiegen sind (vgl. die ver.di-Aktionswoche: Gute Arbeit – ohne Druck). Was in anderen Gesellschaftsbereichen längst als problematisch erkannt wird, vermindert auch Arbeitsqualität und Produktivität in der Wissenschaft.

 

Literatur:

– Ambrasat, Jens, Bezahlt oder unbezahlt? Überstunden im akademischen Mittelbau, in: Forschung und Lehre 26:2 (2019), S. 152–154, https://www.forschung-und-lehre.de/fileadmin/user_upload/Rubriken/Karriere/2019/2-19/FuL_2-19_Ambrast.pdf [zu Überstunden für wissenschaftliches Personal]

– Davis, Zach, Vom Zeitmanagement zur Zeitintelligenz: Produktivität steigern, Stress senken! in: Chefsache Gesundheit I Der Führungsratgeber fürs 21. Jahrhundert, hrsg. von Peter Buchenau, Wiesbaden 2018, S. 61–77, https://doi.org/10.1007/978-3-658-16580-2_4 [zum negativen Zusammenhang von Stress und Produktivität]

– Evans, Teresa M., Bira, Lindsey, Beltran Gastelum, Jazmin, Weiss L. Todd und Nathan L. Vanderford, Evidence for a Mental Health Crisis in Graduate Education, in: Nature Biotechnology 36 (2018), S. 282–284, https://doi.org/10.1038/nbt.4089 [zum erhöhten Risiko für psychische Erkrankungen]

– Pfeffer, Jeffrey, Dying for a Paycheck: How Modern Management Harms Employee Health and Company Performance―and What We Can Do About It, New York 2018 [zum Arbeitsplatz als größter Stressquelle und Auslöser für den Anstieg chronischer Krankheiten]

Zurück zur Übersicht ‘Argumentationshilfen’