Scheinwahrheit Nr. 7b: Man muss die jungen Wissenschaftler:innen nur besser beraten, damit sie sich selbst richtig einschätzen können – und ihnen klar kommunizieren, wenn sie nicht gut genug sind.
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Scheinwahrheit Nr. 7b: Man muss die jungen Wissenschaftler:innen nur besser beraten, damit sie sich selbst richtig einschätzen können – und ihnen klar kommunizieren, wenn sie nicht gut genug sind.

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Individuelle Beratung löst kein strukturelles Problem. Sind in großen Mengen befristete Stellen vorhanden, wird man jeder austauschbaren Person, die auf dem Weg zum Dauerjob scheitert, hinterher vorhalten können, sie sei nicht gut genug gewesen und habe sich falsch eingeschätzt. Das impliziert aber auch, dass wir heute systematisch einen überwiegenden Teil der Forschung und Lehre von Personen bestreiten lassen, die letztlich angeblich gar nicht gut genug dafür sind (vgl. Scheinwahrheit 5a).

 

„Wichtig ist aber doch, […] dass man sich grundsätzlich vielleicht auch früher mal zusammensetzt mit dem eigenen Doktorvater […] und […] die Perspektiven einer Karriere für einen selbst bespricht, […] dass man vielleicht einfach wieder mehr auf diesen Punkt geht, wo werde ich von außen gesehen und wo sehe ich mich selbst, und passt das eigentlich zusammen? Und dann komme ich vielleicht an eine viel realistischere Einschätzung, weil ich einfach dann auch […] eine Außenperspektive habe.“

Anja Karliczek im Gespräch mit Reinhard Genzel, 29.06.2021 (ab Minute 27.35)

 

Ein spezifischer Effekt solcher Beratungen ist zudem, dass nicht-männliche und nicht-privilegierte Menschen sich viel eher zurückziehen als privilegiertere. Deshalb ist auch zu hinterfragen, welche Stärke denn hier von Wissenschaftler:innen als Personen erwartet wird. Darüber hinaus versetzt die Annahme, dass das „Herausberaten“ strukturelle Probleme lösen könne, die mit dieser Aufgabe betrauten Professor:innen in eine zwiespältige Rolle: Da sie gleichzeitig angehalten sind, Drittmittel einzuwerben, müssen sie den Personen, die sie beschäftigen, je nach kontingenter Situation ihre Wertschätzung mitteilen oder sie abqualifizieren. Beauftragt man dagegen eine stetig wachsende Gruppe von Dienstleister:innen des Hochschulsektors – nämlich Coaches – mit dieser Aufgabe, werden Mittel investiert, die dann wiederum beim wissenschaftlichen Personal fehlen. Prekarität aufrechtzuerhalten schafft so nur zusätzliche Prekarität.

 

Vor allem aber stellt sich die Frage, zu welchem Zeitpunkt eigentlich herausberaten werden soll. Diese Behauptung hat insofern eine paradoxe Nachträglichkeitslogik, als der richtige Zeitpunkt für die Einsicht, dass man nicht gut genug sei, eigentlich immer schon vorbei ist. Denn denen, die resignieren, lässt sich aus der Perspektive der das aktuelle System Befürwortenden genauso gut vorwerfen, sie hätten sich nur nicht dem Wettbewerb gestellt. Die gängigen Argumente verstricken sich: Auf der einen Seite sichert angeblich allein der Wettbewerb auf Prekarisierungsbasis die wissenschaftliche Qualität (vgl. Scheinwahrheit 5b). Auf der anderen Seite soll der „Nachwuchs“ nur ordentlich gecoacht werden, damit er alsbald verstehe, im System nicht mehr erwünscht zu sein. Es sind doch aber die gleichen Menschen, die man einerseits nötigt, alles zu geben, um sich durchzusetzen, die man andererseits jedoch zu einem nicht vorhersehbaren Zeitpunkt genau davon (wieder) abbringen muss. Die zweifelhafte Stringenz dieser Argumentation begründet daher den Verdacht, dass Hochschulleitungen ein Eigeninteresse daran haben könnten, junge Wissenschaftler:innen individuell von ihrer Unzulänglichkeit zu überzeugen – denn dadurch sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich kollektiv für bessere Bedingungen stark machen werden.

 

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