Scheinwahrheit Nr. 5c: Befristung schützt die Wissenschaftsfreiheit, weil sie die Leistungsfähigkeit von Institutionen durch Erhöhung des Innovationspotenzials sicherstellt.
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Scheinwahrheit Nr. 5c: Befristung schützt die Wissenschaftsfreiheit, weil sie die Leistungsfähigkeit von Institutionen durch Erhöhung des Innovationspotenzials sicherstellt.

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[Das Sonderbefristungsrecht wissenschaftlicher Institutionen ist] verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. [Es] soll die Leistungs- und Funktionsfähigkeit der Hochschulen und Forschungseinrichtungen erhalten und verbessern. […] [D]er Gesetzgeber kann sich dabei auf Art. 5 Abs. 3 GG – Freiheit der Wissenschaft und Forschung – stützen. […] Die […] Vorschriften des Gesetzes dienen diesem Ziel und sind daran gemessen […] nicht unverhältnismäßig.“

Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorläuferregelung des WissZeitVG vom 24. April 1996

 

Der lapidare Satz im Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes („Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“) präzisiert nicht, wer frei ist: in diesen Bereichen tätige Individuen oder die Institutionen, die diese Tätigkeiten ermöglichen. Im Fall der Kunst ist es offensichtlich schwer vorstellbar, dass ihre Freiheit in der Freiheit von Institutionen besteht, Ausübungsmöglichkeiten zu gewähren oder zu verweigern. Forschung und insbesondere Lehre dagegen können von ihren Urheber:innen nicht als individuelle Produkte auf einem Markt angeboten werden, um die persönliche Subsistenz zu sichern, sondern müssen staatlicherseits durch Bereitstellung von Ressourcen ermöglicht werden. Darf man Wissenschaftsfreiheit deshalb aber als die Freiheit der Institutionen definieren, Beschäftigte systematisch aufgrund der Unterstellung zu entlassen, dass deren Innovationspotenzial aufgebraucht sei? Hier wird Freiheit mit Funktionalität verwechselt. Diese Funktionalität besteht aber derzeit darin, Arbeitskraft durch permanenten Austausch billig und die Arbeitskräfte durch existenziellen Druck auf destruktive Weise hyperproduktiv zu halten. Allein das Gegenteil ist plausibel: Wissenschaft entsteht in den Köpfen von Menschen und setzt kontinuierliche Erkenntnisarbeit voraus. In einer Situation existenziellen Drucks und stets fragwürdiger Aussichten auf die Abschließbarkeit von Forschungsvorhaben kann diese nicht gedeihen, sie wird unfrei (vgl. auch Scheinwahrheit 1a und 5b). Schlicht und allgemeingültig hält das ein Wikipedia-Eintrag fest: „Tenure is a means of defending the principle of academic freedom, which holds that it is beneficial for society in the long run if scholars are free to hold and examine a variety of views.“ (vgl. Eintrag „Academic Tenure“) Auch in den UNESCO-Empfehlungen zu Lehrpersonal im Hochschulsektor von 1997 heißt es: „Tenure […] constitutes one of the major procedural safeguards of academic freedom“ (Bildungsinternationale 2009, S. 2). Und ein Bericht zur Umsetzung dieser Empfehlung von 2009 präzisiert: „changes in employment relationships that diminish employment security […] in the particular environment of higher education would not enhance, and would likely weaken, the full exercise of academic freedom“ (UNESCO 2009, S. 5).

 

Wissenschaftsfreiheit muss grundsätzlich als individuelle Freiheit definiert sein, kann sich als institutionelle immer nur von dieser ableiten und nicht strukturell gegen sie gerichtet sein. Eine Freiheit der Institution, ihre Mitarbeitenden kontinuierlich und unbesehen zu ersetzen, ist keine Wissenschafts-, sondern eine Verwaltungsfreiheit. Das Bundesverfassungsgericht stellte 2010 aber auch fest, dass Organisationsnormen nur dann mit Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG vereinbar sind, wenn „freie wissenschaftliche Betätigung und Aufgabenerfüllung“ dadurch nicht strukturell gefährdet“ würden (BVerfG, Leitsätze, 2010). Würde die „Freiheit zu befristen“ mit konkret inhaltlichen Zielen begründet, etwa damit, dass bestimmte Forschungsziele verfolgt werden sollen, für die das präsente Personal nicht kompetent genug ist, dürfte die Regelung nicht generell, sondern nur in Bezug auf spezifische inhaltliche Begründungen gelten. Dann aber wäre Wissenschaftsfreiheit, gesamtsystemisch betrachtet, immer noch massiv reduziert, weil wenige Mächtige die Forschungsagenden der Vielen bestimmen, also ihre individuelle Freiheit auf Kosten der meisten anderen individuellen Freiheiten maximieren könnten. So ist es faktisch im gegenwärtigen System mit seinem Drittmittel-Übergewicht der Fall.

 
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