10 Dec Scheinwahrheit Nr. 10b: Es geht denen, die im Namen von #IchbinHanna protestieren, doch nur darum, das Beste für sich selbst herauszuholen. Da haben sie natürlich nicht das Wohl des Ganzen im Blick.
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Diese Behauptung fungiert als Ad-hominem-Argument und ist als solches ein Ablenkungsmanöver. Sicherlich kommt der Unmut, den es braucht, unfaire Verhältnisse anzuprangern, vor allem durch persönliche Betroffenheit zustande. Diese macht das Eintreten für eigene Belange aber nicht illegitim. Insbesondere nimmt sie niemandem das Recht, auf offenkundige Fehlsteuerungen des Systems hinzuweisen, die die Rektorate selbst offensichtlich nicht sehen wollen. Deren stereotype Rechtfertigungsroutinen verraten seit Jahren keinerlei Erkenntnisfortschritt.
„Unzählige Zeitungsartikel und Social-Media-Beiträge (#IchbinHanna) geißeln den hohen Anteil befristeter Arbeitsverträge. Dabei geht einiges durcheinander, und es ist höchste Zeit, die zunehmend von Partikularinteressen geleitete Debatte auf den Boden der Realität zurückzuholen.“
Reinhard Jahn, 2019 bis 2021 Präsident der Universität Göttingen, 12.8.21, „Was bei Hanna durcheinandergeht“
Das Hauptproblem der Behauptung ist, was sie ex negativo unterstellt: Dass Hochschulrektorate ihrerseits keine Partikularinteressen verträten, also rein zum Wohl der Wissenschaft handelten. Das aber darf aus mehreren Gründen angezweifelt werden:
Erstens: Große Gruppen prekären Personals auf niedrigem wissenschaftlichem Qualifikationslevel zu haben und sie regelmäßig gegen neue Personen auf Anfängerniveau austauschen zu können, dient weniger dem wissenschaftlichen Fortschritt als der Kostenersparnis (vgl. Scheinwahrheit 2b). Das gibt Dieter Lenzen, bis 2022 Präsident der Universität Hamburg und zuvor der FU Berlin, auch offen zu: „In Deutschland hat man den Weg gewählt, […] Promovierende mit Beschäftigungsverhältnissen zu versehen, um auf billige Weise an Lehre zu kommen, da muss man ja mal ehrlich mit sich sein im politischen Bereich“ (Podcast „Der Gipfel der Bildung“, 11. Februar 2022, Minute 41).
Zweitens sind mit einem Wissenschaftssystem, das nach einigen Berechnungen aus bis zu 50% über Drittmittel finanziert ist (Dohmen/Wrobel, Entwicklung) massive Anreize dafür gesetzt, in erster Linie dem finanziellen Wohlergehen einer Hochschule zu dienen (vgl. Scheinwahrheit 8b). Aber finanzielles Wohlergehen ist in diesem System mit der wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht identisch. Denn zum einen bedeutet das den Anreiz, solche Wissenschaftler:innen einzustellen, die in der Zukunft Goldeselqualitäten an den Tag zu legen versprechen. Lukrative Wissenschaftler:innen sind aber nicht selbstverständlich auch gute, denn der Wert geleisteter Forschung (insbesondere im Fall von Grundlagenforschung) erschließt sich oft erst spät, jedenfalls nicht zu einem vorhersehbaren Zeitpunkt (vgl. auch Scheinwahrheit 8a). Zum anderen dürfte hier ein entscheidender Grund dafür liegen, dass gerade geisteswissenschaftliche Fachbereiche sich in jüngster Zeit massiven Kürzungsforderungen gegenübersehen. Geisteswissenschaftler:innen werben in Summen deutlich weniger Drittmittel ein als Naturwissenschaftler:innen (vgl. Verteilung der Drittmittel je Professor:in nach Fächergruppen 2020), sind also weniger lukrativ. Ob sie wissenschaftlich Anerkennenswertes leisten, hängt davon in keiner Weise ab.
Drittens bedeutet Prekarität für Hochschulleitungen einen Machtfaktor. Wie Statistiken zeigen, sind die Verwaltungsapparate der Hochschulen in den vergangenen Jahrzehnten stetig vergrößert worden (vgl. Banscherus et al., Wandel, S. 22–23 und Hüther/Krücken, Hochschulen, ab S. 247). Einerseits hängt dieser Zuwachs mit dem den Anstieg der Drittmittelquote zusammen, da die Projekte, in denen ein Großteil der befristet beschäftigten Wissenschaftler:innen arbeitet, verwaltet werden müssen, andererseits spielt sicherlich eine Rolle, dass Personalabteilungen umso mehr Aufwand haben, je häufiger diese befristet Beschäftigten wechseln. Besonders viele neue Stellen wurden im Hochschulmanagement aber für hochqualifiziertes Verwaltungspersonal im höheren und gehobenen Dienst geschaffen, um Aufgaben im Lehr- und Forschungsmanagement zu übernehmen; die Zahl der Verwaltungsstellen im niedrigen oder mittleren Dienst hat sich dagegen kaum verändert oder ist sogar rückläufig (vgl. Hüther/Krücken, Hochschulen, S. 245–254). Dass mit dem so entstandenen Apparat, besonders der neuen „mittleren Managementebene“ in der Hochschuladministration, zwangsläufig ein Machtungleichgewicht zwischen Wissenschaft und Verwaltung einhergeht, zeigt die im Vergleich sehr viel höhere Entfristungsquote im administrativen Bereich (womit in keiner Weise bestritten werden soll, dass auch innerhalb der Verwaltungen Hierarchien bestehen, an deren unterem Ende die Verhältnisse oft prekär sind). Ineinandergreifende Systemfaktoren wie die mit größerem Verhandlungsspielraum einhergehende W-Besoldung und Grundfinanzierungsmangel bei hoher (staatlicher) Drittmittelquote bedeuten Macht für die Hochschulleitungen und dieses mittlere Management, weil sie so Druck auf Wissenschaftler:innen ausüben können, lukratives Verhalten an den Tag zu legen, das heißt durch Beteiligung am Drittmittelroulette weitere prekäre Stellen zu schaffen oder für sich selbst nur solche anzustreben, deren Overhead sich für die Institution lohnt. In einem überwiegend grundfinanzierten Universitätssystem mit überwiegend unbefristeten Stellen hätten Universitätsverwaltungen und -leitungen dagegen statt einer kontrollierenden mutmaßlich nur noch eine dienende Rolle. Das Mindeste, was sich sagen lässt, ist, dass Verlautbarungen wie die Bayreuther Erklärung nicht darauf schließen lassen, dass deren Spitzen daran interessiert wären.
Ethische Fragen wie: „Wozu brauchen wir ein Hochschulsystem, das systematisch wissenschaftliches Personal verheizt, es durch Prekarisierung gefügig macht und wissenschaftlich unfrei hält?“ werden typischerweise nicht von Machteliten gestellt, die vom System profitieren. Das ist zwar nicht überraschend, aber sicherlich kein Argument gegen ihre grundsätzliche Berechtigung. Die Frage, ob darauf „zum Wohl der Wissenschaft“ geantwortet werden kann, ist damit aber ebenfalls noch nicht entschieden. Denn wenn anzunehmen ist, dass beide Seiten interessengeleitet argumentieren, ist es eine offene Frage, wer das übergeordnete Anliegen der Wissenschaft als solcher besser vertritt. Hier kann man zumindest in Anschlag bringen, dass die prekär Beschäftigten diejenigen sind, die tatsächlich wissenschaftlich arbeiten und nicht Wissenschaft anleiten oder verwalten. Insofern sind sie auch diejenigen, die mit problematischen Praktiken, die vom System begünstigt werden (siehe Antwort 8a), am direktesten konfrontiert sind. Und vielfach sind sie schlichtweg diejenigen, die sich den Erfordernissen dieses Systems noch am wenigsten unterworfen haben. Auch, wenn sich die Gegenüberstellung sicherlich nicht auf Machtinteresse versus Idealismus herunterbrechen lässt, kann man #IchbinHanna doch zugutehalten, dass sie zwar aus Betroffenheit agiert, aber zugleich weiß, dass sie die Früchte dieses Kampfes aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von ihr selbst, sondern erst von nachfolgenden Generationen geerntet werden.
Literatur:
– Banscherus, Ulf, Baumgärtner, Alena, Böhm, Uta, Golubchykova, Ola, Schmitt, Susanne und Andrä Wolter, Wandel der Arbeit in wissenschaftsunterstützenden Bereichen an Hochschulen. Hochschulreformen und Verwaltungsmodernisierung aus Sicht der Beschäftigten, Stuttgart 2017, https://www.boeckler.de/pdf/p_study_hbs_362.pdf
– Dohmen, Dieter und Lena Wrobel, Entwicklung der Finanzierung von Hochschulen und Außeruniversitären Forschungseinrichtungen seit 1995. Endbericht einer Studie für den Deutschen Hochschulverband, Berlin (FiBS), März 2018, Zusammenfassung unter: https://www.wissenschaftsmanagement-online.de/beitrag/instabile-lage-universit-ten-inzwischen-zu-50-prozent-aus-tempor-ren-mitteln-finanziert-9043
– Hüther, Otto und Georg Krücken, Hochschulen. Fragestellungen, Ergebnisse und Perspektiven der sozialwissenschaftlichen Hochschulforschung, Wiesbaden 2016, https://doi.org/10.1007/978-3-658-11563-0
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