10 Dec Scheinwahrheit Nr. 9b: Wissenschaftler:innen sind ein wanderndes Volk. Davon profitieren nicht nur sie selbst, indem sie verschiedene Forschungskontexte kennenlernen und ihren Horizont erweitern, sondern vor allem die Wissenschaft, die dadurch vielfältiger wird. Das ist durch Befristung sicherzustellen.
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Es kann kein Zweifel bestehen, dass geistiger Austausch für freie Wissenschaft unerlässlich ist und dass Wissenschaftler:innen ein intrinsisches Interesse an ihm haben. Dies schließt Neugier auf Denk- und Arbeitsweisen an anderen Orten selbstverständlich ein. Austausch kann aber nur förderlich sein, wenn er aus freien Stücken und zu einem Zeitpunkt in der wissenschaftlichen Laufbahn erfolgt, an dem er der forschenden Person tatsächlich nützt.
„[Eine Verhinderung der Befristungsregelung] hätte zu einer Beeinträchtigung der Fort- und Weiterbildungskapazität geführt. Die Wissenschaftsfreiheit hätte durch zunehmende Verhinderung personeller Mobilität und damit der [sic] Behinderung des geistigen Austauschs des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes schweren Schaden gelitten.“
Stellungnahme der Max-Planck-Gesellschaft zur Vorläuferregelung des WissZeitvG, zitiert im Urteil des BVerfG vom 24. April 1996
Befristung zerstört genau diese Freiheit, indem sie sie in den Zwang verwandelt, jedem einzelnen der raren Arbeitsplätze, die man ergattern kann, hinterherzuziehen. Nichts weist darauf hin, dass Forschende auf festen Stellen Gelegenheiten zu Forschungsaufenthalten in interessanten Einrichtungen nicht wahrnehmen würden. Wenn Stellen aber ein so rares Gut sind, wie es im auf Selektion getrimmten deutschen Wissenschaftssystem der Fall ist, werden sie praktisch nie in der Hoffnung auf interessanten wissenschaftlichen Austausch, sondern aus schierer Notwendigkeit angenommen. Im Modus des ständigen und kurzfristigen Zwangs zum Wechsel wird der Austausch daher beliebig und ein eventueller Nutzen zum Zufallsprodukt. Außerdem hat Unterbrechung einen Preis: Angesichts der Praxis systematisch zu kurz bemessener Förderlaufzeiten für Forschungsprojekte heißt Mobilität, dass begonnene Projekte nicht zu Ende geführt werden und Wissen somit verloren geht. Darüber hinaus erfordert jedes an jedem neuen Ort begonnene Projekt erneute Einarbeitungszeit. Schon auf der Ebene der Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeit verhindert Zwangsmobilität also mehr, als sie ermöglicht.
Folge der überbordenden Befristung im deutschen Wissenschaftssystem ist eine Lebensgestaltung, die Soziolog:innen als „prekäre Mobilität“ bezeichnen (vgl. Reitz/Ullrich, Mobilität). Der Begriff verweist auf lebenspraktische Kosten, die die Behauptung, dass Wissenschaft von ihr profitiere, noch unplausibler machen: Wer ständig entweder Umzüge planen oder pendeln muss, wer sich alle zwei bis drei Jahre in einem neuen Arbeitsumfeld mit neuen bürokratischen Anforderungen, neuen Softwaresystemen usw. vertraut machen muss, kann die hierfür benötigte Zeit nicht in wissenschaftliches Arbeiten investieren. Belastungen persönlicher Beziehungen, Erschwerung des Familienlebens durch permanente Ortswechsel, Überarbeitung durch zu viel organisatorischen Extraaufwand haben nicht zuletzt Folgen für die Konzentrationsfähigkeit und psychische Gesundheit, die nicht zum Wohle der Wissenschaft ausfallen (auch deshalb nicht, weil sie Personen mit Care-Verantwortung weitgehend ausschließen, also für eine Verengung des möglichen Personalpools sorgen). Alle Vorteile, die der wissenschaftliche Austausch verspricht, wie Internationalisierung und Vernetzung, sind auch auf anderem Wege, nämlich durch Konferenzen und Kooperationen zu haben. Wer sich freiwillig und neugierig anstatt ausgelaugt und in Sorge zu einem längeren Aufenthalt an einem anderen Ort aufmacht, wird es zum größeren Vorteil aller tun. Wer sich jedoch jederzeit bewusst ist, dass sein Arbeitsort Zufall und sein baldiger Weggang absehbar ist, wird sich vor Ort auch nicht engagieren. Das trifft leider nicht nur auf das wissenschaftliche Arbeiten zu: Die „strukturelle Vereinzelung“, die mit der prekären Mobilität einhergeht, wird auch als Hindernis für die Mobilisierung von Wissenschaftler:innen im Arbeitskampf benannt (Reitz/Ullrich, Mobilität, S. 24). Institutionen, die das zwangsmobile Arbeiten befürworten, dürften auch diesbezüglich nicht ganz uneigennützig sein.
Literatur:
– Reitz, Tilman und Peter Ullrich, Raus aus der prekären Mobilität, in: Forum Wissenschaft, 35:2 (2018), S. 23–28, https://www.depositonce.tu-berlin.de/bitstream/11303/8010/3/ullrich_reitz_2018.pdf
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