30 Sep Scheinwahrheit Nr. 1c: So bleibt das System jung, ein Wettbewerbsvorteil!
Die Rede von den „jungen Wissenschaftler:innen“, auch „Nachwuchs“ genannt, dient in der Regel als schlichtes Synonym für „befristet Beschäftigte“ und damit für die weitaus größte Gruppe der wissenschaftlich Tätigen. Zunächst einmal handelt es sich also um einen Euphemismus, der suggeriert, dass die Betreffenden sich noch in einer Orientierungsphase ihres Lebens befinden, obwohl man auf dem steinigen Weg zur Professur oft noch im fünften Lebensjahrzehnt zu dieser Gruppe gehört. Als Kehrseite des Lobs der Jugendlichkeit erweist sich eine so systematische Altersdiskriminierung, wie es sie in keinem anderen Berufsfeld gibt. Denn die Qualifiziertesten haben hier ab einem bestimmten Alter die schlechtesten Karten, weil gerade zwischen den Berufungsfähigen (Habilitierten, Junioprofessor:innen und Nachwuchsgruppenleiter:innen) und freiwerdenden Professuren die Ratio besonders schlecht ist (siehe F & L 26:2 (2019), S. 1104ff). Es offenbart sich in der Floskel von den „jungen Wissenschaftler:innen“ aber auch ein kruder Biologismus, denn ein schneller Aufstieg gilt eher als Exzellenzkriterium als die Fähigkeit, komplexe Vorhaben mit Präzision und langem Atem zum Abschluss zu bringen. Dieses Denken hat seinen Niederschlag in institutionalisierten Normbiographien gefunden, von denen beispielsweise verbreitete Bindung von Drittmittelausschreibungen an akademische Altersgrenzen oder das systematische Fehlen von Abschlussförderungen für größere Projekte zeugen. Hier kommt eine Trial-and-Error-Logik zum Tragen, bei der der durchgeführte Versuch allerdings immer im Reüssieren oder Versagen persönlicher Lebensentwürfe besteht und nicht in Erfolg oder Scheitern eines Projekts, aus denen gegebenenfalls gelernt werden könnte.
Eine unausgesprochene Implikation des vermeintlichen Jugendvorteils liegt im Übrigen darin, dass der universitäre Betrieb zu einem ganz überwiegenden Teil von Personal bestritten wird, dem de facto ein Auszubildendenstatus zukommt, wobei nahezu alle fertig Ausgebildeten wieder nur durch neue Azubis ersetzt werden (vgl. Scheinwahrheit 1b). Ideen bleiben dann Geistesblitze und können nie zur Produktionsreife gelangen, weil der kontinuierliche Erwerb und der langfristige Verbleib von Fachwissen im System strukturell verhindert wird (vgl. Scheinwahrheit 1a). Wer trotzdem an der Vorstellung festhält, dass nur durch das Aussieben von erprobten Wissenschaftler:innen und dem damit einhergehenden ständigen Erfahrungsverlust das Wissenschaftssystem produktiv sein kann, muss darüber hinaus erklären, wieso diese Produktivität gerade durch schlecht bezahlte und abhängig arbeitende ‚jüngere‘ Wissenschaftler:innen gewährleistet werden soll. Denn es liegt ein Widerspruch darin, die ‚Jugend‘ des Systems zu einem Vorteil zu erklären, weil man Junge für produktiver hält, gleichzeitig aber diese Gruppe sich in Positionen aufreiben zu lassen, in denen permanente Unsicherheit, prekäre Mobilität und vielfache Abhängigkeiten diese Produktivität gerade behindern. Wenn ‚Jugend‘ dem Wissenschaftssystem nützt, muss dies entsprechend honoriert und Wissenschaftler:innen die Möglichkeit unabhängiger Forschungs- und Lehrtätigkeit zugestanden werden. Und wenn man sich zu einer so systematischen Altersdiskriminierung berechtigt glaubt, wie sie der Fall ist, weil Ältere vermeintlich nicht mehr produktiv oder originell genug seien, dann erscheint das gerontokratische Prinzip, den wenigen im System älter Werdenden mittels Lehrstuhlstrukturen und Drittmittel-Großprojekten systematisch die größte Macht über Forschungsagenden zuzugestehen, wenig konsequent – allzu kreative Kanäle wird sich die unterstellte größere Leistungsfähigkeit der Jüngeren so kaum suchen können.
Literatur:
– Chance auf Professur steigt, in: Forschung & Lehre 26:12 (2019), S. 1104ff. https://www.forschung-und-lehre.de/karriere/chance-auf-professur-steigt-2324
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