Mythos Tenure Track
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Mythos Tenure Track

Wie ein unausgegorener Importversuch die Befristungsmisere zu verlängern droht

Dies ist die Langfassung unseres Beitrags, der am 19.10.2022 in der FAZ erschienen ist.

Die deutsche Hochschulpolitik braucht zumeist lange, um auf erkannte Probleme zu reagieren, und bringt dann nicht selten Verschlechterungen hervor. Gegenwärtig droht eine (erneute) Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) ihr Ziel zu verfehlen. Die Reform soll den vom Gesetz begünstigten und in dieser Drastik weltweit einmaligen Missstand beheben, dass wissenschaftliche Laufbahnen in Deutschland gewöhnlich mit einer Serie von Zeitverträgen beginnen und regelmäßig ins Nichts führen, wenn der sogenannte Nachwuchs mit Anfang oder Mitte 40 fertig ‚qualifiziert‘ ist. Seine Mitglieder haben dann bereits jahrelang für die Hochschulen gearbeitet, erhalten aber mehrheitlich keine der knappen Professuren, die als einzige reguläre Dauerstelle verfügbar sind. Um das zu ändern, wurde vorgeschlagen, für promoviertes Personal Festanstellungen zur Regel zu machen – etwa von ver.di, der GEW, dem Promovierendennetzwerk N² und dem Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft. Größere Chancen könnte jedoch ein Modell haben, das die Probephase weiter verfestigen und bei unklugem Einsatz sogar verlängern würde: der ‚Tenure Track‘.

In den USA war der Tenure Track eingerichtet worden, um wissenschaftlichem Personal im Anschluss an die Promotion zunächst eine selbständige und dann eine unbefristete Stelle als Mitglied eines Departments anzubieten. Wer nach dem mehrjährigen ‚Track‘ eine positive Evaluierung erhält, wird vom Assistant Professor zum ‚Tenured‘ Associate Professor verstetigt; danach ist auch der Aufstieg zum besonders hoch angesehenen und gut bezahlten ‚Full Professor‘ möglich. Den Kern des Systems bildet nicht der Track, sondern die im Lauf des letzten Jahrhunderts erkämpfte und ausgeweitete Tenure-Stellung, die wissenschaftliche Unabhängigkeit gewährleisten soll. Die Hierarchien bleiben relativ flach, da Professuren anders als in Deutschland über keine weisungsgebundene ‚Ausstattung‘ von Mitarbeitenden verfügen. Über die Vorzüge und Nachteile dieses Modells kann man seriös diskutieren. Die aktuellen Aneignungen bleiben jedoch bei dem Hochglanzbegriff stehen, der internationale Anschluss- und Wettbewerbsfähigkeit verheißt. Sie blenden die Rahmenbedingungen und Probleme des Tenure-Track-Systems so umfassend aus, dass allenfalls eine mangelhafte Kopie zu erwarten ist.

Die Junge Akademie und die Hochschulrektorenkonferenz haben den befristeten ‚Track‘ jüngst als krönenden Abschluss vorheriger Bewährungsbefristung ins Spiel gebracht. Sie schlagen Laufbahnen vor, in denen der Promotion zunächst ein mehrjähriger befristeter Post-Doc-Abschnitt folgt; erst dann soll man sich um die erneute sechsjährige Bewährung im Tenure Track bewerben können. Die Befristungs- und Unsicherheitsphase nach der Promotion würde damit nicht verkürzt oder durch früher geklärte Bleibeperspektiven ersetzt, sondern um die Track-Phase verlängert. Eine Dauerstelle würden die meisten erst mit Mitte oder Ende 40 erreichen. Und während dies in bisherigen Initiativen immerhin eine Professur war, der eine Juniorprofessur vorangeht, will die Junge Akademie den langen Bewährungstrack auch vor bloßen unbefristeten Mitarbeitsstellen einsetzen. Wie sich solche Stellen zu den Professuren verhalten sollen, bleibt ebenso ungeklärt wie das Pendant zum unbefristet und eigenständig arbeitenden Associate Professor im US-Vorbild. Insgesamt sind die Vorschläge mit fast allen Defekten des heutigen Systems kompatibel: einer Befristungsquote von ca. 80% des wissenschaftlichen Personals, konzentrierter professoraler Macht und einer ‚Nachwuchs‘-Phase, die bis ins fünfte Lebensjahrzehnt reicht. Zugleich würde der potenziell kreative, produktive und selbständige Einstieg in die Wissenschaft endgültig in ein Dauer-Assessment umgebaut, das weit mehr als ein Drittel der wissenschaftlichen Laufbahn ausfüllt.

Das mit der Gesetzesnovelle befasste Bundesministerium hat sich zu diesen Vorschlägen noch nicht klar verhalten; mangels eigener Ideen scheint es für sie aber aufgeschlossen zu sein. Sie passen in jedem Fall zu den bislang verfolgten Strategien. Um Kompetenzstreit mit den Ländern zu vermeiden, bevorzugt die Bundes-Hochschulpolitik zeitlich befristete, kompetitiv angelegte Programme, und um für verbesserte wissenschaftliche Stellen keine allzu hohen Kosten zu riskieren, setzt sie auf die wenigen vorbehaltene Juniorprofessur. In dieser Linie steht auch das 2016 ins Leben gerufene Bund-Länder-Programm für 1000 neue Tenure-Track-Professuren. Hier können sich lediglich Universitäten bewerben, die ‚ihre Personalstrukturen überdenken wollen‘, ohne dass die Ausschreibung selbst neue Rahmenbedingungen in Aussicht stellt. Auch dieses Programm sieht eine befristete Postdoc-Phase vor dem Tenure Track vor, weil ein solcher Talentpool nun einmal vorhanden ist, und der neue Weg zur Professur wird betont als einer unter vielen, bereits bewährten dargestellt. Statt struktureller Neuerungen hat das Programm bisher eher Missbrauch angeregt. Wenn die zusätzlichen Tenure-Track-Positionen in bestehende Stellenpläne eingepasst werden, droht eine verkappte Umwidmung ohnehin auslaufender Professuren, und durch die lokal recht geringe Anzahl von Stellen sind mikropolitische Mauscheleien über deren Zuschnitt und Besetzung vorprogrammiert.

Ob ein konsequenterer Ansatz bessere Chancen hätte, ist unsicher. Auch ein flächendeckender Tenure Track würde die Jobsicherheit erst dann spürbar erhöhen, wenn er unmittelbar an die Promotion anschlösse. Diesen Anschluss stellt für Professuren etwa ein früheres Papier der Jungen Akademie und für nichtprofessorale Dauerstellen das Berliner Hochschulgesetz von 2021 in Aussicht. Die USA eignen sich allerdings nur begrenzt als Vorbild, da der Zeitpunkt des Tenure-Track-Antritts dort je nach Fachkultur stark variiert. Zugleich besteht in den USA traditionell eine Vielfalt unbefristeter, wenngleich selten gut abgesicherter wissenschaftlicher Stellen, die den Beteiligten Wahlmöglichkeiten lassen. Wer den Wettbewerb um Tenure-Track- und Tenure-Stellen vermeiden will oder nicht besteht, kann auch einen Job an einem staatlichen College oder als Research Assistant annehmen. Dieses Umfeld alternativer Jobs fehlt in Deutschland. einen sicheren.

Inzwischen hat die transatlantische Vorbildwahl insgesamt antizyklischen Charakter. Der Tenure Track wird in Deutschland zu einem Zeitpunkt als zukunftsweisende Neuerung verkauft, zu dem er in den USA längst ausgehöhlt ist und auch Tenure ein selten gewordenes Privileg darstellt. Seit mehreren Jahrzehnten werden die Tenure- und Tenure-Track-Professuren abgebaut, die ‚Adjunct‘-Positionen ohne verlässliches Gehalt dagegen vermehrt, begleitet von einer Schwemme befristeter Postdoc-Stellen und sonstiger Stellen ohne Tenure-Aussicht. Durch diesen Raubbau am US-Hochschulsystem und dessen stetig zunehmende Geld- und Statusgefälle sind auch die verbliebenen Assistenzprofessuren stark unter Druck geraten. Die Department-Struktur verhindert zwar immer noch weitgehend, dass die Bewährungsbeschäftigten in deutscher Manier zur abhängigen Gefolgschaft der Professor:innen werden. Doch in der verschärften Konkurrenz geben zunehmend familiäre Startvorteile und quantitative Erfolgszahlen den Ausschlag. Insgesamt haben die genannten Trends auch jenseits des Atlantiks längst die Wissenschaftsfreiheit untergraben, die das Tenure-System einst sichern sollte.

Fast scheint es, als sollten im Zeichen des Tenure Track zwei heruntergewirtschaftete Hochschulsysteme verbunden werden, um durch Versatzargumente alte und neue Privilegien besser schützen zu können: ein US-System, das zunehmend an seinem Personal spart, ohne seine Eliteansprüche aufzugeben, und ein deutsches System, das mit kleinen und exklusiven Laufbahnversprechen sein von der Lehrstuhl-Elite abhängiges, projektfinanziertes Postdoc-Elend erhalten will.

In jedem Fall lohnt es zu fragen, welche Motivationen die Verfechter des Tenure Track in der laufenden Debatte antreiben. Die Hochschulrektorenkonferenz setzt vorrangig aufs Bewährte: steile Hierarchien, viele beliebig verfügbare Arbeitskräfte, ein unverkürzt an die befristet Beschäftigten weitergegebener Wettbewerbsdruck. Ähnlich eindimensional ist etwa der Deutsche Hochschulverband auf die Verteidigung professoraler Standesprivilegien fixiert. Die Junge Akademie wiederum vertritt trotz vereinzelter Demokratisierungssignale nicht, wie gern suggeriert wird ‚den Nachwuchs‘. Durch professorale Akademieleitungen und den eigenen Kreis als ‚herausragend‘ ausgewählt, repräsentieren ihre fünfzig Mitglieder vielmehr die wenigen, die im etablierten Wettbewerbsmodus bereits erfolgreich sind. Weil sie berechtigte Hoffnung hegen, sich bald zur Professur durchgekämpft zu haben, sehen sie zu den bestehenden Verhältnissen kaum prinzipielle Alternativen, sondern fordern nur faire Wettbewerbsregeln im Einzelnen. Gemeinsam und unwidersprochen könnten diese Akteure einen natürlicherweise anzustrebenden ‚Tenure Track‘ als Verheißungsfigur etablieren, die erneut von den dringend nötigen Beschäftigungsreformen ablenkt. Die wenig informierte Weise, in der sie diese Figur aufrufen, lässt vermuten, dass es ihnen weniger um eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse als um den Erhalt des Sonderbefristungsrechts und ihrer damit verbundenen Machtpositionen geht.

Potentiell sinnvoll könnte der Tenure Track (wohl) nur als Element einer grundlegenden Reform sein, die Dauerstellen oder den geregelten Übergang dorthin für Einstellungen nach der Promotion verbindlich macht. Er könnte etwa dazu beitragen, dass promovierte Wissenschaftler:innen nicht auf Jahre hin den Professuren zuarbeiten. Neben Dauerstellen mit Aufstiegsmöglichkeit könnten sie zudem als Erprobungsstellen fungieren, auf denen man rasch in verantwortliche Positionen gelangen, aber auch scheitern kann. Der Tenure Track würde in Deutschland dann eine, wiederum antizyklische, Maßnahme zur überfälligen Reanimation und Sicherung von Wissenschaftsfreiheit darstellen. Aktuell steht und fällt diese Freiheit aber vor allem damit, dass zehntausende wissenschaftlich Beschäftigter ohne Professur und Mitgliedschaft in der Jungen Akademie endlich solide Berufsperspektiven erhalten. Die Selbständigkeit, die sie bereits in den verbauten und aussichtsarmen Verhältnissen der Gegenwart zeigen, könnte sich dann jenseits eingefahrener Gleise bewähren.

 

Für das Netzwerk schrieben: Tilman Reitz, Britta Ohm, Álvaro Morcillo Laiz, Thomas Krichner und Lisa Janotta