Hochschulkompetenzen ‚aus dem Off‘?
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Hochschulkompetenzen ‚aus dem Off‘?

Wie das Entschwinden physischer Räume und körperlich-leiblicher Begegnungen in digitale Formate gedeutet werden kann. Zum ‚Off‘-Charakter der Onlinehochschule. Kommentar

Lisa Janotta (unter Mitarbeit von Britta Ohm)

17.9.2020

Am 14.8.2020 überraschte die Bundesregierung mit der Entscheidung, ausländischen Erstsemester-Studierenden für ein digitales Wintersemester 20/21 keine Visa zu erteilen, wenn sie keine Teilnahme an Präsenzveranstaltungen nachweisen könnten. Eine ähnliche – mittlerweile zurückgenommene – Regelung in den USA hatte die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Anja Karliczek, jüngst noch kritisiert. Der Freie Zusammenschluss von Student*innenschaften (fzs) reagierte mit Kritik, der auch wir als NGAWiss uns angeschlossen haben.

Die Entscheidung der Bundesregierung fällt in eine Zeit, in der das Ringen um den Fluch oder Segen der digitalen Hochschullehre schon ein paar Monate alt und zugleich noch in vollem Gange ist. Aus New York/USA meldete sich James D. Walsh mit einem Szenario des Verschwindens der öffentlichen Universitäten zugunsten von EdTech-gesponserter Markenlehre (Harvard, Yale, Stanford etc.). Damit würde langfristig die Massen-Digitaluniversität zum Regelfall und die Präsenzlehre an Elite-Einrichtungen zur Ausnahme und zum Luxus. Zugleich gelten die US-amerikanischen Privatuniversitäten als besonders von der Corona-Krise gebeutelt, da sie von den Einnahmen der Studiengebühren abhängen – und die fielen krisenbedingt aus. In England hingegen, so heißt es, werde schon lange auf die Digitalisierung hin gearbeitet, um endlich die Raumkosten für die Präsenzlehre zu sparen.

Während in der englischsprachigen Debatte eine Dystopie gezeichnet und über die neue Macht von EdTech-Konzernen nachgedacht wurde, teilte man in der bundesdeutschen Debatte zumindest die Sorge um das Verschwinden der Präsenzlehre – und eine Petition zur Verteidigung derselben. Demgegenüber verlangte Christian Dries, „Schluss mit dem Digitalgejammer“ und statt dessen „unverzagt das Beste aus zwei Welten zu kombinieren und mit blended learning Ernst zu machen: die Präsenzlehre für das zu reservieren, was sie ausmacht, den Austausch, das intensive Gespräch (im Idealfall in kleineren Gruppen als bisher); und einen großen Teil der Inhalte dafür effizienter und womöglich auch besser digital zu vermitteln.“

Online-Lehre wird einerseits als Geschäftsmodell, andererseits als Heilsversprecherin für eine ungeahnte Effektivierung des Hochschulbetriebs gehandelt. Was aber steckt alles in der digitalen Büchse der Pandora? Nun ist die Hochschullandschaft in der Bundesrepublik Deutschland nicht mit der (privaten) studiengebühren- und unterfinanzierten Landschaft der USA und England vergleichbar. Hierzulande wurde und wird vielmehr diskutiert, wer eigentlich finanziell an der Digitalisierung gewinnt, ob es über das Ja oder Nein zur digitalen Lehre hochschuldemokratische Mitbestimmung geben kann, wer die Kosten für die nun privatisierten Arbeitsräume der Lehrenden und Studierenden trägt und wie sich soziale Ungleichheiten durch die Digitalisierung erneut verstärken könnten (siehe dazu Mathias Fuchs sowie Peter-Paul Bänziger). Dass in Videokonferenz-basierten Seminaren ganz eigensinnige (Nicht-)Dynamiken entstünden, wirft Christian Kirchmeier ein: Im vergangenen Semester beobachteten Dozent*innen, dass Studierende konsequent ihre Kameras und Mikrofone aus ließen und somit im Seminarraum unsichtbar blieben.

Dieser Diskussion ist eine weitere Facette hinzuzufügen: Es muss gefragt werden, was für ein Menschenbild Stichwortgeber der Idee ist, dass die Präsenz von Studierenden an ihrem Studienort überflüssig sei – während Urlaubsreisen in alle Richtungen unter der Beachtung aktueller Hygienebestimmungen längst wieder erlaubt sind.

Anhand der konkreten Visapolitik(entwürfe) der USA und Deutschlands – der Vorenthaltung von Visa für ausländische (Erst-)Studierende im Digitalsemester – lässt sich nach den zugrundeliegenden impliziten Konzepten von ‚Studierenden‘, vom ‚Studieren‘ und von ‚universitärer Bildung‘ fragen. Was für ein Menschenbild steckt hinter der Idee, dass Studierende nicht am Studienort selbst relevante Erfahrungen machen könnten? Warum soll den ausländischen (Erst-)Studierenden die Möglichkeit genommen werden, Lehrenden in ausreichend belüfteten Räumen im Rahmen einer Sprechstunde zu begegnen? Warum soll diesen (Erst-)Studierenden der Weg zu Kleingruppentreffen mit Kommilliton*innen im Freien genommen werden, sowie der Zugang zu den lokalen Bibliotheken, deren Bestände größtenteils gedruckt sind?

Um einer Missinterpretation vorzubeugen, sei vorausgeschickt: Zur Debatte steht hier nicht, dass die coronabedingte Digitalisierung eine wertzuschätzende Möglichkeit ist, universitäre Lehre und (nunmehr digitale) Bildungsräume unter den Bedingungen des Infektionsschutzes aufrecht zu erhalten, bzw. neu zu gestalten. Stattdessen geht hier es darum, in der jungen Debatte und der unbekannten politischen Situation neue Dynamiken und Tendenzen zu deuten.

Es liegt nahe, dass in den deutschen und US-amerikanischen Diskussionen zu Einreisebeschränkungen für Studierende schlicht keine Notwendigkeit zu einer körperlich-physischen Bewegung der Studierenden gesehen wird. Denkt man dies mit den in der englischsprachigen Debatte beschriebenen Entwicklungen zusammen, so schlägt die unter den Vorzeichen von Corona entworfene Visapolitik in eine ähnliche Kerbe wie die Hoffnung auf eine effiziente (und vielleicht auch lukrative) digitale Hochschule – wenngleich, um im Bild zu bleiben, aus einer anderen Richtung. Ergänzend kann also gefragt werden: Woher kommt die Annahme, dass das Dozieren, das Gestalten von Bildungsräumen unabhängig von der leibhaftig erfahrbaren Person des*der Lehrenden und dem gemeinsamen Erleben mit Mitstudierenden realisierbar sei? Woher nehmen einige die Annahme, dass Hochschulinhalte als eine Massendienstleistung von internationalen Unternehmen eingekauft werden könnten?

Hochschulische Bildung als ausschließlich digitalen Prozess zu begreifen, entspringt wahrscheinlich – so der hier zur Diskussion gestellte Gedanke – dem Vergessen, dem Ausblenden, der Ignoranz von Körper- und Leiblichkeit der Bildung selbst (z.B. Rita Casale et. al 2020; Malte Brinkmann et al. 2019). Während die Hochschuldidaktik (z.B. mit dem Fokus auf Inklusion Platte et al. 2018) genau dies in die den Bildungsraum Hochschule einzubringen versucht – die Standortgebundenheit der individuellen Bildungsprozesse, die Abhängigkeit des Lernens von eignen Interessen, die Bedeutsamkeit des sozialen Austauschs und der leiblichen Reflexion von Haltungen und Handlungen – verbannt die neue Idee der digitalen (A)Synchronität von Bildung eine wichtige Realität: dass der Mensch in allen Lebensvollzügen an die Materialität seiner sinnlich erfahrenen Existenz gebunden ist. Im Essen wie im Schlafen wie im Sozialen wie im Lernen und Bilden. Stattdessen formiert sich die Idee einer gleichsam immateriellen Bildung, die jederzeit, von jedem*jeder online einkaufbar, privat realisiert wird. Es wird aber nicht mehr gefragt, wer welche Bildungsinhalte wie zur Verfügung stellt. Irgendwie, von irgendwelchen Dienstleistungsanbieter*innen aus einem ortlosen ‚Off‘, sollen Dienstleistungsnehmer*innen modularisierte Wissenspakete übermitteln werden, die dann, wie auch immer, in immerzu abrufbare Kompetenzen transformiert werden. Die so Gebildeten selbst scheinen keinen Ort mehr zu benötigen, von dem aus sie ihre Kompetenzen anbieten. Die völlig unterbezahlten Crowdworker dieser Erde geben darauf wahrscheinlich einen – durchaus dystopischen – Vorgeschmack (siehe dazu auch Robert Ovetz).

Unsichtbar wird die Ungleichheit der vielen privaten Orte, an denen das vermeintliche ‚reine‘ Wissen produziert und konsumiert werden soll. Im Privaten verschwindet auch das Leiden an der digitalen Sterilität, an der Unerreichbarkeit hochschulischer Atmosphären in der elterlichen Wohnung oder zwischen den eigenen Kindern. Darüber hinaus verschwindet in der Dynamik hin zur Digitalisierung nicht nur der Mensch in seiner Körper- und Leiblichkeit. Die Verschiebung der Präsenzlehre macht auch die Materialität als Bedingung des Digitalen unsichtbar: die (teilweise noch zu produzierenden) digitalen Endgeräte, die jedes für sich dezentral Strom verbrauchen; die Server, die die Videostreams ermöglichen und für die Strom aus endlichen Ressourcen gewonnen wird.

Diese Überlegungen nicht blind dafür, dass im Sinne des Infektionsschutzes eine Zeit lang nach alternativen Bildungsformen gesucht werden muss, dass Digitalisierung und die Möglichkeiten digitaler, (a)synchroner kollaborativer Arbeit und klimafreundlicherer Videokonferenzen statt vermeintlich unabdingbarer Kurzstreckenflüge nicht eine sinnvolle Sache wären. Es muss aber danach gefragt werden, welche (politischen) Phantasien und Ideologien die Konzepte von Online vermittelbarem ‚Wissen‘ und ‚Bildung‘ nähren – und auch danach, ob das eigentlich auf der Höhe unserer bildungstheoretisch und hochschuldidaktisch informierten Zeit ist. Und ob das Beiseiteschieben der Materialität des menschlichen Wohlstands (und seiner ungleichen Verteilung), des menschlichen Lebens und der menschlichen Bildung nicht allesamt Aspekte eines Vergessen(machen)s sind. Und schließlich, wie wir das Wissen um Körper- und Leiblichkeit in die Gestaltung der Hochschule und der Arbeitswelt zurück holen können.

Literatur:

Brinkmann, M./Türstig, J./Weber-Spanknebel, M. (Hrsg.) (2019): Leib, Leiblichkeit, Embodiment: pädagogische Perspektiven auf eine Phänomenologie des Leibes. Wiesbaden.

Casale, R./Rieger-Ladich, M./Thompson, C. (2020): Verkörperte Bildung Körper und Leib in geschichtlichen und gesellschaftlichen Transformationen. Weinheim/Basel.

Platte, A./Werner, M./Vogt, S./Fiebig, H./Julius Beltz GmbH & Co. KG (Hrsg.) (2018): Praxishandbuch Inklusive Hochschuldidaktik. 1. Auflage. Weinheim/Basel.