01 Mar Dead University Day in Frankreich, existenzielle Kämpfe in Großbritannien – langsames Wissenschaftssterben in Deutschland
In Solidarität mit den streikenden Kolleg*innen in Frankreich und Großbritannien beteiligt sich das Netzwerk für gute Arbeit in der Wissenschaft am Dead University Day und wird am 5. März symbolisch seine Internetpräsenz abschalten. Wir fordern alle Wissenschaftler*innen auf, den Streiktag zu unterstützen.
Am 5. März 2020 beginnen die Kolleg*innen an den französischen Universitäten mit der Ausrufung eines ‘Dead University Day’ den Streik, um sich gegen die zunehmend wettbewerbsförmige Organisation ihres akademischen Daseins zur Wehr zu setzen. Den Anstoß bildet ein Gesetz (die sog. LPPR, loi de programmation pluriannuelle de la recherche), das von der Regierung im Frühjahr ausgearbeitet werden soll. Es beinhaltet neue Einstellungs- und Beschäftigungsverhältnisse, aber auch regelmäßige, sanktionsbewehrte Evaluationen. Dabei ist u.a. vorgesehen, die Option der Festanstellung im Mittelbau (Maître*sse de conférence und Chargé*e de recherche) durch ein tenure-track-Modell zu ersetzen und das Lehrdeputat für Wissenschaftler*innen, die ‘nicht genug’ publizieren, zu erhöhen. Besonders skandalisierend wirkte ein Artikel, in dem der Direktor des Centre National de la Recherche Scientifique neue Prinzipien der Ungleichheit und des Darwinismus forderte, um die besten Wissenschaftler*innen zu größtmöglichen Leistungen anzutreiben: „Il faut une loi ambitieuse, inégalitaire – oui, inégalitaire – une loi vertueuse et darwinienne, qui encourage les scientifiques, équipes, laboratoires, établissements les plus performants à l’échelle internationale, une loi qui mobilise les énergies.“ („Wir brauchen ein ambitioniertes, inegalitäres – ja, inegalitäres -, ein vortreffliches, darwinistisches Gesetz, das die im internationalen Maßstab leistungsstärksten Wissenschaftler, Teams, Laboratorien und Einrichtungen ermutigt und Energien mobilisiert“, Antoine Petit in Les Echos, 26.11.2019) Fachleute aus der Biologie und anderen Disziplinen haben rasch darauf hingewiesen, dass diese Annahmen weder durch Darwins Theorie noch durch Wissenschaftsforschung gedeckt sind. Eine im Dezember lancierte, von 15.000 Forschenden unterzeichnete Petition hebt hervor, dass Auslese im Sinn Darwins keineswegs ein “Prozess kollektiver Optimierung” ist (sondern vielmehr die Individuen begünstigt, die den Umweltbedingungen am besten angepasst sind, teilweise zum Schaden ihrer eigenen Gruppe), dass die in Frankreich in dieser Form neue, andernorts bereits leidvoll erprobte akademische Konkurrenz vor allem strategisches Verhalten von Wissenschaftler*innen belohnt und dass eine Konzentration finanzieller Ressourcen erwiesenermaßen weniger produktiv ist als ihre breite Verteilung (die Petition kann hier unterzeichnet werden). De facto schrumpfende finanzielle Mittel sollen zu steigenden Anteilen nach einer kompetitiven Projektlogik vergeben werden – was auch zu Verschleierung der Budgetkürzungen führt. Andere Beiträge ergänzen, dass der ausufernde Prestige- und Ressourcenwettbewerb in der französischen Wissenschaft auch einen Anstieg von Fehlverhalten, Betrug und nichtreproduzierbaren Ergebnissen bedingt hat; das Resultat sei „natural selection of bad science“ (zit. n. Philippe Huneman, ).
Der politische Kampf ist – auf nationaler wie internationaler Ebene – weiter zu führen, denn wir haben vielfach erfahren, dass auch intellektuell widerlegte Wissenschaftsmanager praktisch Schaden anrichten.
Bereits jetzt, seit dem 20. Februar, wird auch in Großbritannien gestreikt. Dort waren schon 2018 und 2019 bittere Arbeitskämpfe geführt worden, um die Umwandlung der garantierten Ruhestandszahlungen in individuelle, finanzmarktabhängige ‚pension funds‘ zu verhindern. Schätzungen (samt derer der Arbeitgeber) haben als Effekt einen durchschnittlichen Pensionsverlust in Höhe von 10 bis 40% kalkuliert – „a textbook case of the dismantling of a shared good through financialisation“ (Waseem Yaqoob im Blog der London Review of Books, 16.2.2018). Die Streiks haben diese Gefahr trotz Zwischenerfolgen nicht abwenden können; eine Kommission, die die geplante Reform evaluieren soll, ist zum neuen Gegenstand der Sorge und Auseinandersetzung geworden. Gegenwärtig stehen neben diesem weiterhin schwelenden Thema Zero-hour-contracts (also der völlig bedarfsabhängige Einsatz akademischer Arbeitskräfte, ohne garantiert bezahlte Mindestarbeitszeit), die gesundheitsgefährdende Arbeitsbelastung, gender pay gap und ethnicity pay gap im Zentrum des Konflikts. Bis zu 50.000 Hochschul-Mitarbeiter*innen sollen sich in den 14 Streiktagen bis zum 13. März beteiligen (The Guardian, Sally Weale und Laith Al-Khalaf, 20.2.2020). Kolleg*innen in Großbritannien sehen mittlerweile alle Grenzen überschritten: „This feels like a fight now for the soul of academia, of universities. And it feels (to someone of my age) like the miners’ strike, which is both encouraging and really scary” (Mitglied der University of Birmingham, E-Mail-Kommunikation). In Frankreich laufen derweil die Aktivitäten auf Hochtouren, um am 5. März alle Tastaturen still stehen zu lassen, Lehre und Forschung auszusetzen.
Das Netzwerk für gute Arbeit in der Wissenschaft unterstützt diese (von allen Beschäftigtengruppen getragenen) Widerstände ausdrücklich und wünscht sich verstärkte Tätigkeiten und Unterlassungen dieser Art auch in Deutschland. Immer mehr Zeichen sprechen dafür, dass hier der auf allen Ebenen längst eingerichtete Wettbewerb die Wissenschaftskultur ernsthaft beschädigt; selbst eine von der Konrad-Adenauer-Stiftung und dem DHV beauftragte Umfrage unter Professor*innen hat kürzlich massive Unzufriedenheit mit Arbeitsüberlastung und aufgeblasener Antragsbürokratie dokumentiert. Der ungleich stärkere existenzielle Druck, unter dem der sogenannte wissenschaftliche Nachwuchs steht, beeinträchtigt nicht nur die wissenschaftliche Neugierde, Kreativität, Eigenständigkeit und Entdeckungsfähigkeit, er zieht auch große Beeinträchtigungen im Privatleben, etwa bei der Familiengründung nach sich, die vielen französischen Kolleg*innen bisher noch erspart geblieben sind.
Die verschiedenen nationalen Spielarten des akademischen Neoliberalismus scheinen darum zu wetteifern, die in der Wirtschafts- und Sozialpolitik offenkundig blamierte Strategie einer Ausweitung von Märkten und Quasi-Märkten so weit wie (un)möglich weiterzutreiben. Die Resultate ähneln sich in Ländern, auch weit über Europa hinaus, u.a. in Asien und in den USA, wo schon länger die Streikaktivität wächst: Prekarität, Überlastung, Wettbewerbsbürokratie, Prestigekonkurrenz, verschärfte Ungleichheit und eine langfristige Beschädigung von Forschung und Lehre. Es wird höchste Zeit, dass die Wissenschaftler*innen auch in Deutschland aktiver dagegen aufstehen. Der Sozialdarwinismus und die neoliberale Politik gehören der Vergangenheit an, in der Zukunft brauchen wir große Zuwächse an Solidarität, um das zivile Zusammenleben auf einem intakten Planeten sicherzustellen. Umso nachdrücklicher bekunden wir den französischen und britischen Wissenschaftler*innen gegenüber unsere Solidarität. Wir wissen, sie kämpfen auch für uns. Es wird Zeit, sich ihnen auch praktisch anzuschließen.