Scheinwahrheit Nr. 1b: Unbefristete Stellen verhindern, dass jüngere Absolvent:innen die Chance bekommen, sich zu qualifizieren.
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Scheinwahrheit Nr. 1b: Unbefristete Stellen verhindern, dass jüngere Absolvent:innen die Chance bekommen, sich zu qualifizieren.

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Dieser Behauptung liegt die falsche Prämisse zu Grunde, dass die einzig bestehende Alternative zum Status quo sei, alle derzeit befristeten Beschäftigen sofort zu entfristen.

Gäben wir allen Nachwuchswissenschaftlern eine unbefristete Perspektive, ginge der Wissenschaftsstandort Deutschland kaputt. Dann hätten wir nämlich den Stellenfluss verstopft und die nachwachsenden Generationen kämen nicht mehr in die Hochschulen rein.“

Ulrich Preis, Mit-Konstrukteur des WissZeitVG in der DUZ 3/2017, S. 40

 

Andere Länder (Schweden, Dänemark, Frankreich, UK) haben aber Hochschulsysteme mit regelhaft unbefristeten Stellen, ohne dass dabei angenommen würde, dass dies Jüngeren Qualifizierungschancen verwehrt. Auch in solchen Systemen qualifizieren sich Wissenschaftler:innen und rücken auf Stellen nach – nicht alle auf einmal und für mehrere Jahrzehnte, sondern – aufgrund des Altersspektrums der je aktuellen Stelleninhaber:innen – nach und nach. Darüber hinaus entsteht Fluktuation in diesen Ländern auch deshalb von allein, weil ausreichend unterschiedliche Dauerstellen auch unterhalb der Professur zur Verfügung stehen und auf diesen Stellen eine Weiterqualifikation möglich ist – denn damit sind Aufstiegschancen und nicht nur Abstiegsmöglichkeiten gegeben. Dann nämlich bewerben sich auch entfristet Beschäftigte auf bessere, ebenfalls unbefristete Stellen, und neue Personen können nachrücken.

 

Ähnlich verhält es sich in fast allen Berufen jenseits der Universität – und das mit gutem Grund: Unter Qualifikation versteht man üblicherweise die Investition in eine Ausbildung, um einen Beruf später fachkundig und dauerhaft auszuüben. Im heutigen deutschen Wissenschaftsbetrieb wird Qualifikation dagegen nach der Logik des Spitzensports betrieben: Qualifikation ist nur die Vorbereitung dafür, in den K.O.-Runden aussortiert zu werden. Chancengerechtigkeit heißt hier: Alle bekommen eine 80- bis 90-prozentige Chance, an der dauerhaften Ausübung ihres erlernten Berufs zu scheitern. Generationengerechtigkeit kann nicht darin bestehen, dass man Menschen, die jahrzehntelang gute Arbeit in der Wissenschaft geleistet haben, nur wegselektiert, um sie durch weitere Generationen zu ersetzen, denen dasselbe Schicksal bevorsteht.

Zur sachgerechten Förderung des akademischen Nachwuchses […] ist die generelle Befristung der Beschäftigungsverhältnisse von wissenschaftlichen Mitarbeitern geeignet und auch erforderlich. […] Jede vorberufliche Lernphase muß einmal zu Ende gehen. Kontinuierliche Nachwuchsförderung […] kann nur betrieben werden, wenn die beschränkt vorhandenen Stellen immer wieder frei werden. Ein milderes Mittel als die Befristung der Arbeitsverhältnisse ist dazu nicht ersichtlich.“

Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Sonderbefristungsrecht wissenschaftlicher Institutionen vom 24. April 1996

 

Zu den Sorgen um den Wissenschaftsstandort Deutschland, die zugleich mit dem hypothetischen Mangel an ausgebildeten Wissenschaftler:innen artikuliert werden, lässt sich einwenden: Nimmt man die auch im „Hanna“-Film des BMBF verwendete Verstopfungs-Metapher, die die Protestbewegung #IchbinHanna auslöste, trotz ihrer Respektlosigkeit ernst (und setzt man voraus, dass sie organisch gemeint ist), dann leidet das gegenwärtige deutsche Hochschulsystem in Wahrheit am exakten Gegenteil: Ein System, das den allergrößten Teil seiner Beschäftigten auszubilden behauptet, danach aber keine Verwendung für sie hat, verliert aufgrund seiner Fluktuation permanent Wissen, bevor es dieses aufgenommen und verarbeitet hat, weil die Strukturen, die es bewahren und systemisch konsolidieren könnten, mangels erfahrenen Personals viel zu schwach sind.

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