Bayreuther Bankrotterklärung
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Bayreuther Bankrotterklärung

(see English version below)

Stellungnahme des Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft zur “Bayreuther Erklärung” der Uni-Kanzler*innen

Die Vertretung des Mittelbaus widerspricht den Kanzler*innen der Universitäten und ihrer Bayreuther Erklärung, die sich für den Erhalt der gegenwärtigen Befristungsexzesse einsetzt. Arbeit an Hochschulen ist keine vorübergehende Qualifizierung. Gute Arbeit setzt vernünftige Beschäftigungsperspektiven voraus. In ihrer Ignoranz gegenüber den Folgen der herrschenden Befristungspraxis für Beschäftigte und die Wissenschaft zeigt die Erklärung, dass mehr fehlt als Geld – sie ist eine Bankrotterklärung. 

Die Kanzlerinnen und Kanzler der deutschen Universitäten haben sich in ihrer Erklärung vom 19.09.2019 nachdrücklich für die Aufrechterhaltung der weitreichenden Befristungspraxis und des Sonderbefristungsrechts in der Wissenschaft ausgesprochen. Als Begründung wird angegeben, bei den Universitäten handle es sich um „Qualifizierungssysteme“, deren Aufgabe wesentlich darin bestehe, „auf eine berufliche Karriere außerhalb des Wissenschaftssystems“ vorzubereiten. Doch das ist so schlicht nicht zutreffend. Vor allem die Habilitation und ein Großteil sonstiger Postdoc-Beschäftigung qualifiziert ausschließlich für eine Karriere als Hochschullehrer*in, nicht für eine Tätigkeit außerhalb der Wissenschaft, und wirkt auch nicht dem „Fachkräftemangel in Wirtschaft und Gesellschaft“ entgegen. Eine Befristung der Beschäftigung nach der Promotion ist vor diesem Hintergrund nicht zu rechtfertigen.

Hinzu kommt, dass die Phase der Qualifikation und der Status als wissenschaftlicher „Nachwuchs“ i. d. R. bis zur Erstberufung auf eine Professur andauert, also oft einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten umfasst. Hier kann wirklich nicht mehr von einer Ausbildung für Positionen außerhalb der Wissenschaft gesprochen werden. Es erstaunt daher sehr, dass in der Erklärung der Kanzlerinnen und Kanzler keinerlei Unterschied zwischen promovierendem und habilitierendem „Nachwuchs“ gemacht wird – ein Begriff, der aufgrund seiner infantilisierenden Konnotationen eigentlich ohnehin aussortiert werden sollte. Fast könnte man diese Verwischung der Unterschiede für einen rhetorischen Trick halten, der bisherige Diskussionen unter den Tisch kehrt, denn es geht bei der Forderung nach Entfristung des Mittelbaus vor allem um die Entfristung von Promovierten, also um jene Postdocs, die in der Wissenschaft bleiben wollen und von ihr auch existentiell zur Bewältigung von Forschung und Lehre gebraucht werden.

Die Beschreibung der Universitäten als reine „Qualifizierungssysteme“ erweckt den irrigen Eindruck, die wissenschaftlichen MitarbeiterInnen seien lediglich ‚Auszubildende‘ oder Profitierende des Systems. Dies blendet die vielfältigen Aufgaben in Forschung, Lehre und Verwaltung aus, die von den befristet beschäftigen „Nachwuchswissenschaftler*innen“ tagtäglich übernommen werden. Sie leisten mit ihrer Arbeit einen wesentlichen Beitrag zur Aufrechterhaltung des Hochschulsystems. Wissenschaftliche Mitarbeiter*innen bilden ihrerseits einen Großteil der Studierenden aus, statt selbst nur ausgebildet zu werden. Die von ihnen übernommenen Tätigkeiten, vor allem in Lehre und Verwaltung, sind größtenteils Daueraufgaben. Die Betreuung der Studierenden und die Sicherung der Qualität der Lehre erfordern dabei ein erheblich größeres Maß an Kontinuität, als es unter den derzeitigen Bedingungen gegeben ist. Das Argument der Kanzler*innen impliziert, dass Wissenschaft in Deutschland derzeit mehrheitlich von nicht qualifiziertem Personal ausgeübt wird – und verlangt zugleich, für dieses Personal nicht etwa angemessene dauerhafte Positionen einzurichten, sondern es, nachdem es seine Qualifizierung bewiesen hat, großenteils zu entsorgen.

Zudem unterstellt die Bayreuther Erklärung, bei umfassenden Entfristungen könnten Qualifikationsarbeiten nicht mehr in „sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen“ verfasst werden, weil die Stellen auf Jahre hinaus alle schon besetzt seien. Das leuchtet kaum ein, zumal die Kanzler*innen sogar mehr Geld für die Hochschulen fordern. Denkbar sind etwa sowohl befristete und sozialversicherungspflichtige Promotionsstellen als auch anteilige Qualifikationszeiten in unbefristeten Arbeitsverhältnissen nach der Promotion. Eine umfassende Entfristung würde das Nachrücken jüngerer Wissenschaftler*innen verlangsamen, aber keinesfalls unmöglich machen. Es würde genügen, den Anteil entfristeter Stellen kontinuierlich zu erhöhen, um das Argument angeblicher Generationenungerechtigkeit zu erledigen. In Staaten wie Großbritannien, in denen wesentlich mehr Stellen unterhalb der Professur entfristet sind, wird ein solches Problem interessanterweise ebenso wenig wahrgenommen wie hierzulande in sonstigen Beschäftigungsbereichen, wo Stellen überwiegend unbefristet sind – die Professur eingeschlossen (die Befristungsquote in Deutschland liegt insgesamt bei gut 10 % – im wissenschaftlichen Mittelbau ist es in etwa umgekehrt).

Die von den Kanzler*innen vorgebrachte Argumentation spielt unter dem neoliberalen Mantra der Chancengleichheit lediglich die Prekären von heute gegen die von morgen aus: Es setzt voraus, dass es fair sei, einem Maximum von Personen eine statistisch geringe „Chance“ zu gewähren, im so entfesselten Wettbewerb nicht zu scheitern. Zugleich wird als selbstverständlich gesetzt, dass die unter Zeit- und Konkurrenzdruck und in oft jahrzehntelanger Berufstätigkeit erbrachten Leistungen retrospektiv beliebig entwertet werden dürfen. Nur für die kleine Untergruppe der Professor*innen gilt ein privilegierter Sonderstatus als nicht hinterfragbar.

Bei all dem stellt sich die Frage: cui bono? Weshalb schließen sich die obersten Verwaltungsleiter*innen der deutschen Universitäten zusammen, um im Namen von Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft das international einzigartige Maximum von akademischer Befristung zu rechtfertigen? Unterstellt wird so die Sinnhaftigkeit einer Personalstruktur, in der Forschung und Lehre von möglichst vielen prekarisierten Personen auf untergeordneter Qualifikationsebene und möglichst wenigen entfristeten auf höchster Qualifikationsebene geleistet werden. Ebenso behauptet wird damit die Sinnhaftigkeit des massenhaften Entlassens hochqualifizierter Wissenschaftler*innen im mittleren Lebensalter auf einen Arbeitsmarkt, für den sie heillos überqualifiziert sind – oder eben in die Arbeitslosigkeit. Es darf bezweifelt werden, ob Wissenschaft und Gesellschaft von dieser Prekarisierungspraxis profitieren. Weshalb also beharren die Universitätskanzler*innen so nachdrücklich darauf, dass diese Praxis dem Allgemeinwohl dient?

Man darf vermuten, dass hier mit einem fadenscheinigen Allgemeinheitsanspruch übertünchte Partikularinteressen sprechen. Sichere Beschäftigung für eine größere Anzahl von Wissenschaftler*innen würde – wie von den Kanzler*innen beklagt und befürchtet – in der Tat eine Verringerung von „Flexibilität“ bedeuten. Das heißt aber nicht nur: weniger finanzielle Spielräume, weil man nicht mehr auf das Personal setzen könnte, das am wenigsten kostet und das man am leichtesten loswerden kann. Es würde auch mehr Autonomie für die Wissenschaftler*innen ermöglichen und in der Konsequenz mehr demokratische Mitbestimmung durch diejenigen, die mit dem und für den Kernzweck der Universität beschäftigt sind: Wissenschaft. Und das wiederum hieße: weniger Entscheidungshoheit für die Kanzler*innen und den proportional zur Prekarisierung stetig wachsenden Verwaltungsapparat der Universitätsleitungen und akademischen Wettbewerbsbürokratien.

Wir fordern die Hochschulen auf, sich von der Bayreuther Erklärung zu distanzieren und sich stattdessen für einen Abbau der uferlosen Befristung einzusetzen. Spätestens nach der Promotion brauchen Wissenschaftler*innen eine klare Verbleibsperspektive!

 


In English:

The Network for Decent Labor in Academia’s Statement on the “Bayreuth Declaration” of the University Chancellors

Explanatory notes by Soziopolis:
The employment situation of non-civil servants at German universities has been the subject of ongoing discussions for years. The criticism voiced in particular by the representatives of the often precariously employed “Mittelbau” (mid-level staff) concentrates primarily on two points: On the one hand, there is the situation of teaching staff, who – contrary to Humboldt’s ideal of unified research and teaching, which many still praise – cover a large part of the courses, but only receive fixed-term and poorly endowed employment contracts; and on the other, there are hardly any ongoing positions for graduate academics in the German higher education system below the professorship, so many members of the so-called “young academics” (Nachwuchses) have to live under conditions of continuing uncertainty. At their last meeting in September of this year, the chancellors of the German universities commented in the Bayreuth Declaration on the current situation at German universities and defended the existing system of temporary employment. Since its publication, the Declaration has received much criticism from the Mittelbau, not least on social media (#bayreuthererklärung). To give this vital debate more room, we document below the statement of the Network for Fair Employment in Academia (NGAWiss), which works to improve the employment situation of scholars, teachers and staff in German academia.

The representation of the Mittelbau opposes the chancellors of the universities and their Bayreuth Declaration, which advocates preserving the current excesses of fixed-term employment in academic work. Working at universities is not a temporary qualification. Good work requires reasonable employment prospects. In its ignorance of the consequences of the prevailing fixed-term practice for employees and faculty, the declaration shows that something more is missing than money – it declares (moral) bankruptcy.

In their declaration of 19 September 2019, German university chancellors emphatically spoke out in favour of maintaining the far-reaching practice of fixed-term employment and the special right to issue temporary contracts in academia (on the basis of the Wissenschaftszeitvertragsgesetz – Temporary Employment in Higher Education-Act). The reason the declaration resorts to is that the universities are “qualification systems” whose main task is to “prepare people for a career outside the academic system”. That is simply not the case. Above all, the habilitation and a large part of other postdoc employment qualify applicants exclusively for a career as a university teacher, not for a position outside academia. They also do not counteract the “shortage of skilled workers in industry and society”. Against this background, it is not justifiable, as currently happens, to limit the duration of employment after the doctorate.

Besides, the qualification phase and the status as “junior academics” (Nachwuchs) usually last until the first appointment to a professorship, i.e. often a period of several decades. It is no longer possible to speak here of training for positions outside academia. It is therefore astonishing that the chancellors’ declaration makes no distinction between doctoral and postdoctoral “Nachwuchs” – a term that we should anyhow discard for its infantilising connotations. One could almost consider this blurring of differences between doctoral and postdoctoral positions to be a rhetorical trick so as to sweep under the carpet all previous discussions. After all, the demand for removing fixed-term contracts for mid-level staff concerns mainly those who already hold a PhD, i.e. scholars who want to remain in academia and who are also essential for universities to cope with increasing demands in research and teaching.

Describing the universities as pure “qualification systems” gives the erroneous impression that the academic staff are mere “trainees” or beneficiaries of the system. This description ignores the manifold tasks in research, teaching and administration that are taken over daily by the “junior academics” on fixed-term contracts. With their work, they contribute significantly to maintaining the higher education system. Academic staff train a large proportion of the students instead of being “trained” themselves. The activities they take on, especially in teaching and administration, are effectively permanent tasks for the institution. Supervising students and preparing quality teaching require much more continuity than is now the case. The argument put forward by the chancellors implies that academia in Germany is mainly carried out by non-qualified personnel, while also suggesting that appropriate permanent positions not be established for these scholars. Instead, the chancellors propose disposing of many employees once they have proven their qualifications.

The Bayreuth Declaration also assumes that removing fixed-term contracts would mean qualification work can no longer be performed in “employment relationships subject to social insurance contributions”. They argue that this is because these insurance-paying positions will all be filled for years to come. This is hardly plausible, especially since the chancellors are also demanding more money for the universities. It is conceivable, for example, that doctoral positions could be fixed-term and subject to social insurance contributions, while a proportion of qualification periods could be spent in permanent employment after the PhD. Complete removal of fixed-term contracts would slow down, but not make impossible, advancing younger academics. Practically, it would be enough to continuously increase the proportion of permanent positions, thereby answering the argument of alleged generational injustice. Interestingly, in countries such as Great Britain, where considerably more positions below the professorship are permanent, such a problem is as little perceived as in other employment areas in Germany, where jobs are predominantly permanent – including the professorship. The rate of fixed-term employment in Germany is around 10% overall, while the opposite is true for the academic mid-level faculty.

The argument put forward by the chancellors, under the neoliberal mantra of “equal opportunities,” only plays the precarious of today against the precarious of tomorrow: It presupposes that it is fair to grant a maximum of persons a statistically small “chance” not to flounder in the competition that universities have unleashed. Equally, the chancellors take for granted that universities can, at will, retrospectively devalue academic work pursued during decades of professional activity – work that academics have inevitably provided under pressures of time and competition. Only for the small subgroup of professors is a special privileged status unquestionable.

With all this, the question arises: cui bono? Why do the administrative heads of German universities unite in justifying – in the name of science, business and society – the internationally unique percentage of fixed-term employment in academia? The assumption is that it makes sense to have a personnel structure in which research and teaching are carried out by as many precarious people as possible on a secondary qualification level and as few permanent people as possible on the highest qualification level. Similarly, it is apparently claimed that it makes sense to dismiss highly qualified middle-aged scholars on a massive scale to a job market for which they are hopelessly overqualified – or to unemployment. It is doubtful whether academia and society will benefit from this precarisation practice. So why do the university chancellors insist so firmly that this practice serves the common good?

One may suspect that this is a case of a flimsy claim to generality, which is supported by a barely veiled vested interest. Secure employment for a more significant number of scholars would mean reducing “flexibility”. The chancellors complain about and are fearful of precisely this. Reducing flexibility means for them, not only less financial leeway – because they could no longer rely on the cheapest and most easily dismissed personnel – but also allowing for more autonomy and, consequently, more democratic co-determination of those involved with the university’s core purpose – research and teaching. And that, in turn, would mean less decision-making power for the chancellors and the administrative apparatus of the university management and bureaucracies of academic competition – offices that have been growing continuously in proportion to the precarisation (flexibilisation) of academics themselves.

We call on the universities to distance themselves from the Bayreuth Declaration and instead advocate reducing the boundless fixed-term employment. Scholars need a clear perspective in academia!

 

The Network is grateful to Ben Gook for the fast translation of the text into English.