Forderungen des Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft
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Für faire Beschäftigung an deutschen Hochschulen!

Forderungen des Netzwerks für Gute Arbeit in der Wissenschaft

 

Unsere Forderungen zusammengefasst

 

    1. Beschränkung der Qualifikationsbefristung auf die Promotionsphase
    2. Adäquate Stellenprofile für Doktorand*Innen, Post-Docs und Studentische Beschäftigte
    3. Abschaffung der Habilitation als Qualifikationsstufe
    4. Jede Form von Lehre muss angemessen entlohnt werden
    5. Abbau von Ungleichheiten und Diskriminierung
    6. Auflösung der Lehrstühle, Demokratisierung der Institute
    7. Die Grundfinanzierung der Hochschulen stärken
    8.  

Ausführliche Darstellung [PDF]

 

Prekarität statt Exzellenz

 

Das ist die vorherrschende Realität im deutschen Wissenschaftssystem, das aller beschönigenden Selbstdarstellung zum Trotz strukturell auf unsicherer Beschäftigung und mitunter auch auf Dumpinglöhnen basiert. Über 80% der Stellen im sogenannten wissenschaftlichen Mittelbau an deutschen Hochschulen sind befristet. Damit liegt der Anteil an Befristungen weit höher als in jedem anderen Sektor des Arbeitsmarktes, und das obwohl es sich um Stellen im Öffentlichen Dienst handelt. Zudem besteht für die Mehrheit der so beschäftigten Wissenschaftler*innen keine Aussicht auf Verbleib in der Wissenschaft, obwohl sie bundesweit einen Großteil der regulären Forschung und Lehre stemmen. Wissenschaft ist kein Abenteuerurlaub auf eigenes Risiko, sondern Teil des gesetzlichen Auftrags der Hochschulen und auf individueller Ebene ein Beruf, der mehrheitlich von hochqualifizierten, -motivierten und -engagierten Menschen ausgeübt wird. Im deutschen Wissenschaftssystem werden sie allerdings bis ins fünfte Lebensjahrzehnt als eine Art Edel-Praktikant*innen behandelt: In der euphemistisch als „Qualifikationsphase“ bezeichneten Zeitspanne zwischen Studienabschluss und Professur müssen sich Absolvent*innen, Promovierte und Habilitierte regelhaft von einer unsicheren Beschäftigung zur nächsten hangeln, wobei sie unter erheblichem Leistungs- und Konformitätsdruck in existenzieller Abhängigkeit von den jeweiligen Lehrstuhlinhaber*innen gehalten werden. Dadurch wird sowohl die berufliche Laufbahn (und damit die individuelle Lebensplanung) unberechenbar als auch die freie Ausübung wissenschaftlicher Arbeit (und damit deren Qualität) strukturell gefährdet. Die erstaunlich langlebige Tradition der Ordinarienuniversität wirkt hier fatal mit dem marktförmigen Umbau des Hochschulsystems zusammen.

Wir, Promovierende, Post-Docs, Lehrbeauftragte, Privatdozent*innen, Projektmitarbeiter*innen, studentische Beschäftigte und Professor*innen an deutschen Hochschulen, sind nicht länger bereit, diesen Zustand stillschweigend mitzutragen. Deshalb haben wir das fächerübergreifende und bundesweit aktive Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft gegründet. Gute Arbeit umfasst die selbständige wissenschaftliche Entwicklung der Forscher:innen sowie die dauerhafte Beschäftigung, den Ausschluss atypischer Beschäftigungsverhältnisse und die Vereinbarkeit von Lebens- und Berufsplanung. Gemeinsam fordern wir eine grundlegende Reform des deutschen Hochschulsystems, orientiert an folgenden Kernpunkten:

 

 

 

1. Beschränkung der Qualifikationsbefristung auf die Promotionsphase

 

Die unbefristete Beschäftigung muss spätestens nach der Promotion auch in der Wissenschaft das Regelarbeitsverhältnis sein. Die wissenschaftliche Qualifikation ist mit der Promotion abgeschlossen. Die Habilitation und habilitationsäquivalente Leistungen sollten nicht befristungsrelevant sein, da sie lediglich der innerwissenschaftlichen Rekrutierung des eigenen Leitungspersonals dienen, nicht der allgemeinen Qualifikation für den Arbeitsmarkt. Weitere Befristungen wären ausschließlich in Ausnahmefällen und mit klarer Anschlusszusage auf Entfristung zulässig. Nur so können Wissenschaftler*innen sowohl ihre berufliche Weiterentwicklung als auch ihre private Lebensplanung sinnvoll gestalten und anspruchsvolle und unabhängige, kurz: gute wissenschaftliche Arbeit leisten. Eine wesentliche Grundlage der katastrophalen Beschäftigungssituation im akademischen Mittelbau bildet das 2007 verabschiedete Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Es soll Dauerbefristungen im Hochschulbereich verhindern, macht aber befristete Beschäftigung zum Normalzustand. Auf Basis des WissZeitVG sind vertragliche Beschäftigungsfristen von wenigen Monaten bis im günstigeren Fall zwei bis drei Jahren zur Regel geworden. Diese zwingen oftmals zu beschäftigungslosen Überbrückungsphasen, die – nicht selten unter Bezug von Arbeitslosengeld oder Hartz-IV-Leistungen – mit unbezahlter Weiterqualifizierung und/oder Drittmitteleinwerbung verbracht werden müssen. Nach Ablauf der durch das Gesetz erlaubten zwölf Jahre befristeter Beschäftigung sehen sich viele Wissenschaftler*innen einem faktischen Beschäftigungsverbot ausgesetzt. Damit wird die ohnehin inakzeptable Beschäftigungssituation zusätzlich verschärft. Es kann nicht sein, dass hochqualifizierte Fachkräfte im fortgeschrittenen Lebensalter nur noch zwei Optionen haben: entweder eine der wenigen Professuren zu ergattern oder irgendwann vom Arbeitsmarkt als nicht vermittelbare, weil hoffnungslos überqualifizierte und spezialisierte Fachkräfte ausgemustert zu werden.

 

Wir fordern: Abschaffung der Qualifikationsbefristung für die Postdoc-Phase.

 

 

2. Adäquate Stellenprofile für Doktorand*Innen, Post-Docs und Studentische Beschäftigte

 

Die Doktorarbeit stellt die zentrale Qualifikation für eine wissenschaftliche Laufbahn dar, wird aber in aller Regel nur mangelhaft finanziell abgesichert. Deshalb müssen verbindliche Mindestlaufzeiten für Erstverträge in der Promotionsphase eingeführt werden. Auch Faktoren, die die Promotionszeiten de facto verlängern, müssen finanziell wie zeitlich berücksichtigt werden: Elternzeit, Krankheits- und Angehörigenpflegezeiten, aber auch Lehre oder administrative Aufgaben. Eine angemessene Mindestvertragslaufzeit muss sowohl der realen durchschnittlichen Promotionsdauer als auch der tatsächlichen Arbeitsbelastung an Hochschulen beschäftigter Doktorand*innen Rechnung tragen.  Unser Vorschlag dazu sieht fünf Jahre Mindestlaufzeit plus ggf. ein Jahr Verlängerung vor (wie bereits üblich an niederländischen Hochschulen). Wichtig ist außerdem, Finanzierungsmodelle für die Übergangszeiten vor und nach der Promotion zu entwickeln.

Die Promotion sollte grundsätzlich als Voraussetzung für ein unbefristetes Arbeitsverhältnis an einer Hochschule oder außeruniversitären Forschungseinrichtung genügen. Wenn entfristete Stellen konkrete inhaltliche Schwerpunkte in Forschung, Lehre und/oder Organisation haben, müssen Kernkompetenzen nicht länger bei Professor*innen konzentriert werden. Schwerpunkte können dann variabel gesetzt werden sowie wechseln, und auch ein Aufstieg zu verantwortlicheren Positionen mit größeren Entscheidungsbefugnissen ist denkbar. Dem Problem, dass systematische Entfristung eine Generation auf Kosten der folgenden bevorzugen würde, kann durch eine schrittweise und langfristige Umwandlung der Stellenstrukturen begegnet werden. Ein konstantes Betreuungspersonal vorzufinden wäre auch im Sinne der Studierenden.

Zwei Wege der Umsetzung bieten sich an: Entweder werden in großem Maßstab befristete „Nachwuchs“- und Mittelbaustellen durch Professuren ersetzt, oder nichtprofessorale Dauerstellen werden (nach dem Muster von Lecturer- und Reader-Stellen oder Akademischen Räten) massiv ausgeweitet, strukturell aufgewertet und mit zusätzlichen Befugnissen bzw. Optionen ausgestattet. Beide Wege lassen sich kombinieren. Sie stellen aber unterschiedliche Anforderungen an die akademische Selbstverwaltung, in die alle nichtprofessoralen Beschäftigten gleichberechtigt einzubinden sind. Demokratisierten Instituten (s. Punkt 5) kommt im Prozess der Umstrukturierung deshalb eine zentrale Rolle zu.

Um diese grundlegende Änderung akademischer Beschäftigungsverhältnisse erfolgreich umzusetzen, sollte die Reform des Sonderbefristungsrechts (s. Punkt 2) für Hochschulen von gezielten Anreizsystemen und der Sanktionierung von Massenbefristung flankiert werden, zum Beispiel durch eine Befristungszulage. Auch eine Maximalbefristungsquote kann als Instrument zur systematischen Entfristung dienen. Insgesamt darf dieser Umbau aber keinesfalls zu einer Spaltung zwischen Forschenden und Lehrpersonal führen – etwa in befristete Projektmitarbeiter*innen und „Lehrkräfte für besondere Aufgaben“, die (derzeit ebenfalls häufig befristet) ein so hohes Lehrvolumen zu bewältigen haben, dass eigene Forschung und wissenschaftliche Weiterentwicklung systematisch verunmöglicht werden. Forschung und Lehre müssen an Hochschulen verbunden bleiben.

Darüber hinaus fordern wir eine angemessene, d.h. an die allgemeine Lohnentwicklung im Öffentlichen Dienst angeglichene tarifliche Entlohnung aller studentischen Beschäftigten sowie eine Abkehr von „Stückel-Verträgen“ in diesem Bereich. Mittel dazu sind angemessene Tarifverträge für studentische Beschäftigte (TVStud).

 

Wir fordern: angemessene tarifliche Bezahlung und Mindestvertragslaufzeiten für studentische Beschäftigte, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung als Standard für die gesamte fachüblich angemessene Zeit der Promotion sowie die regelhaft entfristete Beschäftigung für Post-Docs.

 

 

3. Abschaffung der Habilitation als Qualifikationsstufe

 

Im internationalen Vergleich weitestgehend einzigartig ist die Habilitation, die lediglich zur Rechtfertigung der hohen Befristungsquote im Namen einer vermeintlichen Weiterqualifikation im Mittelbau beiträgt. Die Fähigkeit zur eigenständigen wissenschaftlichen Arbeit wird mit der Doktorarbeit nachgewiesen. Das Festhalten an der Habilitation in einigen Fächern suggeriert jedoch, dass man erst nach ihrem Abschluss vollgültige*r Wissenschaftler*in ist. Diese künstliche Hürde hat massive Prekarisierung zur Folge: Fast ein Drittel aller sich Habilitierenden stehen beim Ablegen der Prüfung nicht (mehr) in einem Beschäftigungsverhältnis mit der Hochschule und benötigen sie dennoch, um ihre Laufbahn fortzusetzen. Diese deutsche Besonderheit, d.h. die vergleichsweise schlechtere Stellung promovierter Wissenschaftler*innen, macht den Standort nicht nur unattraktiv für internationale Karrieren, sondern aufgrund der damit verbundenen anderen Leistungserwartungen auch inkompatibel mit ihnen. Zweite und dritte Bücher oder substanzielle Veröffentlichungen sind der international anerkannte Standard für die Berufung auf eine Professur. Die Habilitation stellt weder ein sinnvolles Instrument zur fachlichen Bewertung noch zur Sicherstellung von Lehrkompetenz dar. Ein fachlich notwendiges Instrument ist sie nicht, weil sie längst kein disziplinübergreifender Standard mehr ist; während sie in den Naturwissenschaften keine relevante Qualifikation mehr darstellt (aber formal zur Befristung genutzt wird), halten Geisteswissenschaften an ihr fest (und provozieren so umso länger prekäre Karrieren). Auch der Lehre dient die Habilitation nicht: Formal gilt sie zwar als Lehrbefugnis, de facto wird aber der größte Teil der Lehre von Nicht-Habilitierten getragen. Nicht zuletzt wird die Habilitation als Ausbeutungsinstrument genutzt, wenn Privatdozierende zu unbezahlter ‚Titellehre‘ gezwungen sind, um den Titel zu behalten. Kurz: Die Habilitation darf nicht mehr dazu führen, dass der Schritt in die reguläre wissenschaftliche Beschäftigung erst in einem späten Lebensalter und mit reduzierten beruflichen Alternativen erfolgt. Solange in manchen Fächern die Habilitation als Bedingung für die Berufung auf eine Professur regelhaft vorausgesetzt wird, ist die wichtigste Forderung hier die nach der angemessenen Entlohnung und Absicherung der Habilitierten (s. Punkt 4).

 

Wir fordern: Abschaffung der Habilitation als Qualifikationsstufe.

 

 

4. Jede Form von Lehre muss angemessen entlohnt werden

 

Mit der Einführung regulärer, entfristeter Beschäftigungsverhältnisse muss auch die skandalöse Situation der nicht sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Forschung und Lehre grundlegend reformiert werden. Lehraufträge sichern an vielen Hochschulen einen relevanten Anteil des grundständigen Lehrbedarfs, werden aber meist, wenn überhaupt, weit unter Mindestlohn oder bloß symbolisch honoriert. Wir fordern deshalb, dass Lehraufträge standardmäßig nicht zur Deckung des Lehrbedarfs herangezogen werden und zugleich, dass sie, sofern im Ausnahmefall vergeben, dem Qualifikationsniveau und Arbeitsaufwand der Lehrenden entsprechend honoriert werden. Lehrbeauftragte sind keine Lehrenden zweiter Klasse und sollten deshalb – wie alle anderen Lehrenden auch – Mitglieder der Universität mit allen damit einhergehenden Rechten sein.

Dringend reformiert werden muss außerdem die unwürdige Situation der Privatdozenten*innen, die ein Symptom für den im deutschen Universitätssystem bisher vorherrschenden eklatanten Verschleiß von Qualifikationen und menschlichen Ressourcen darstellt. Nach einer sehr langen Ausbildungs- und oft auch Arbeitszeit, meist mit über 40 Jahren, müssen sie sich auf die Suche nach einer Professur begeben, was durchschnittlich sechs Jahre dauert und oft erfolglos bleibt. In dieser Zeit hangeln sie sich von Projektstelle zu Gastprofessur zu Stipendium zu Vertretung, häufig unterbrochen von Phasen der Arbeitslosigkeit. Mit dem Qualifikationsschritt der Habilitation verlieren sie zudem den Anspruch auf Bezahlung ihrer Lehrtätigkeit und werden zu unbezahlter ‚Titellehre‘ erpresst. Wir fordern, dass die derzeit zwischen 5.000 bis 7.000 an deutschen Universitäten unbezahlt tätigen Privatdozenten*innen sowohl durch eine angemessene Bezahlung der Titellehre als auch durch anderweitige Förderinstrumente vor Prekarisierung und Altersarmut geschützt werden.

 

Wir fordern: angemessene Bezahlung nicht nur für angestellte und verbeamtete Beschäftigte, sondern auch für Lehrbeauftragte und Privatdozent*innen

 

 

5. Abbau von Ungleichheiten und Diskriminierung

 

Die prekäre Stellensituation in der Wissenschaft hat weitreichende Konsequenzen für die Reproduktion von Ungleichheiten im deutschen Hochschulsystem. Auf befristeten Verträgen kann sich den Zugang zu einer wissenschaftlichen Karriere und das Durchlaufen langwieriger Qualifikationsphasen nur leisten, wer ohnehin ökonomisch abgesichert ist. Ein Habitus, der zur angestrebten Führungsposition passt, erhöht zusätzlich die Aufstiegschancen. Aufwendige Pflege-, Haus- und Erziehungsarbeit, die in Deutschland weiterhin zu über drei Vierteln von Frauen geleistet wird und unter den gegenwärtigen Arbeitsbedingungen mit einer Beschäftigung im Wissenschaftsbetrieb kaum zu vereinbaren ist, führt zum frühzeitigen Ausschluss oder Ausstieg hochqualifizierter Wissenschaftlerinnen aus dem System. Wissenschaftler*innen aus dem Ausland, die oft nur über Gastaufenthalte an deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen beschäftigt sind, werden von der Politik gern als Aushängeschild für ein offenes Forschungsland Deutschland bemüht, doch für die Mehrheit des globalisierten Wissenschaftsprekariats gibt es faktisch kaum eine Möglichkeit, im deutschen Hochschulsystem längerfristig Fuß zu fassen.

Dass eine wissenschaftliche Karriere hierzulande nur über eine lange, von wechselnden kurzfristigen Anstellungen geprägte Phase hinweg möglich ist, verstärkt Ausschlusseffekte. Sie treffen gerade all jene, die nicht sozial abgesichert sind, die rassistischer Diskriminierung ausgesetzt sind, die zusätzliche Care-Arbeit leisten, die keinen deutschen Pass besitzen, deren Aufenthaltsstatus ungesichert ist, die körperlich eingeschränkt oder psychisch belastet sind, denn je öfter sie sich in Bewerbungsphasen beweisen müssen, desto stärker akkumulieren sich Benachteiligungen durch weniger prestigeträchtige Positionen. Wissenschaftlerinnen etwa sind häufiger befristet angestellt als ihre männlichen Kollegen. Trotz steigender Zahlen von Studienanfängerinnen und Promovendinnen sind deshalb nur rund ein Viertel der Professuren und Hochschulleitungspositionen mit Frauen besetzt. Noch augenfälliger ist die weitgehende Abwesenheit Schwarzer Menschen und People of Colour in deutschen Hochschulen, ebenso die von Personen, die mit einer Behinderung oder chronischen Krankheiten leben. Ähnlich sieht es bei der Herkunft von Studierenden und Wissenschaftler*innen aus: Menschen, die aus nicht-akademischen Milieus kommen oder eine Migrations- beziehungsweise Fluchtgeschichte haben, werden deutlich seltener auf Professuren berufen als ihre nicht strukturell diskriminierten Kolleg*innen. Am häufigsten gelangen weiterhin weiße Männer aus den obersten Gesellschaftsschichten auf Professuren – mit sogar wachsender Tendenz sozialer Schließung.

Nicht zuletzt ist Altersdiskriminierung ein inhärenter Bestandteil des deutschen Hochschulsystems, denn dessen auf Selektion getrimmte Alterspyramide lässt nur einen minimalen Anteil jeder Alterskohorte auch die zweite Hälfte ihres Berufslebens darin verbringen.  Ideologisch geht dies mit einer systematischen Abwertung von Berufs- und Lebenserfahrung zugunsten der angeblich größeren Innovationskraft jüngerer Wissenschaftler*innen einher (die zudem in der Regel billiger sind). Jüngere Kolleg*innen werden somit als profitable und ausbeutbare ‘Ressource’, Ältere als ‘Belastung’ adressiert. Dadurch erhält der infantilisierende Begriff des ‚wissenschaftlichen Nachwuchses’ eine schon per se diskriminierende Dimension.

Eine demokratische Universität muss der Anforderung genügen, Ungleichheiten aufgrund von Klasse, ‚race’, Herkunft, Geschlecht, Alter, sexueller Orientierung, Religion und Ability weitestgehend zu reduzieren. Angesichts der vorherrschenden Mängel im deutschen Wissenschaftssystem verlangt dies sowohl strukturelle als auch diskursive Veränderungen. Notwendig ist dafür die Reform der neoliberal neu aufgewerteten feudalen Ordinarienuniversität, die eine Ballung von Macht auf patriarchal strukturierten Lehrstuhlprofessuren begünstigt. Klassen- und Geschlechtergleichheit sowie antirassistische Gesichtspunkte müssen verbindliche Kriterien bei der Stellenbesetzung werden; Förder- und Antidiskriminierungsprogramme sollten verpflichtend sein. Sich schlicht, wie derzeit in Mode, „Diversität“ auf die Fahnen zu schreiben oder Familienfreundlichkeitszertifikate ausstellen zu lassen ist ungenügend, wenn die Strukturen der Ungleichheit weiterhin reproduziert werden und für diskriminierungsbetroffene Gruppen zum progressiven Dropout statt zur sicheren Anstellung führen.

 

Wir fordern: den Abbau von Ungleichheiten und verbindliche Maßnahmen für diskriminierungsfreie Verhältnisse an Hochschulen und Forschungseinrichtungen.

 

 

6. Auflösung der Lehrstühle, Demokratisierung der Institute

 

Wir streben ein partizipatives, kooperatives und kollegiales Miteinander aller an der Hochschule Tätigen an, das Kritik, Auseinandersetzung und Mitgestaltung ermöglicht, Hierarchien abbaut und Willkür verhindert. Das bestehende Beschäftigungssystem ist nicht nur ungerecht, sondern hat auch ein eklatantes Demokratiedefizit. Dessen Dreh- und Angelpunkt ist die Fixierung auf die Professur als einzig reguläre Lebenszeitstelle im Hochschulbetrieb. Mit der ubiquitären Befristung des wachsenden Mittelbaus, der Ausweitung drittmittelbasierter Forschung und einer stagnierenden Professurenzahl hat auch die professorale Macht gegenüber dem sonstigen wissenschaftlichen Personal weiter zugenommen. Der Drittmittelbetrieb und die sogenannte Exzellenzinitiative bzw. -strategie haben in erster Linie die Hierarchisierung und die massiven persönlichen Abhängigkeiten an Universitäten verstärkt.

Dies hat gravierende Folgen, die einer innovativen und kreativen Wissenschaftskultur diametral zuwiderlaufen, wie etwa fehlende Diskussionskultur, Diversität und Konfliktbereitschaft (Anpassung an bestehende Strukturen, Forschungsrichtungen, Fragestellungen, Arbeitsabläufe, Verzicht auf das Anzeigen von Mobbing, sexueller Belästigung, Plagiaten etc.), Vollzeitbelastung auf halben Stellen, eine Arbeitsüberlastung der Professuren selbst durch immer ungünstigere Betreuungsschlüssel, ausufernde Management-Aufgaben und zunehmend wichtige Output-Kennzahlen. Zudem unterstützt diese Struktur Machtkämpfe zwischen konkurrierenden „Hofstaaten“, bei denen gerade befristet beschäftigte Wissenschaftler*innen aufgrund ihrer Abhängigkeit aufgerieben werden. Die Fixierung auf die Professur hat aufgrund der völligen Alternativlosigkeit auch im Mittelbau (und der weiteren Öffentlichkeit) tiefgreifende psychische Auswirkungen und schwächt das Bewusstsein für den anti-demokratischen Charakter des Systems.

Wir fordern dagegen eine Demokratisierung auf allen Ebenen. Unmittelbar gilt es, die bestehenden Strukturen der akademischen Selbstverwaltung gegenüber aktuellen Tendenzen zur „unternehmerischen“ Herrschaft der Hochschulleitungen, Hochschulräte und drittmittelstarken Bereiche zu verteidigen. Mittelfristig geht es um eine Reform dieser Strukturen hin zu einem echten paritätischen System mit Gleichberechtigung aller beteiligten Gruppen (wissenschaftliches Personal, ggf. mit Professor*innen als eigener Gruppe, Studierende, nichtwissenschaftliche Beschäftigte) in allen Hochschulgremien. Schließlich wird es für eine demokratische Hochschule unabdingbar sein, die Lehrstühle bzw. Arbeitsbereiche mit persönlich den Professor*innen unterstellten wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen durch demokratisch selbstverwaltete Institute mit einer Bandbreite formal gleichberechtigter, unbefristeter Positionen/Funktionsstellen zu ersetzen (wie es z.B. im angelsächsischen Modell üblich ist). Entscheidungen über Personal, Mittelverteilung und wissenschaftliche Schwerpunkte müssen hier in kollegialer Auseinandersetzung getroffen, begründet und ausgehandelt werden. Eine solche gemeinsame Verwaltung, eine differenzierte Arbeitsteilung und Personalstruktur sowie eine verallgemeinerte, kooperativ eingebettete Selbstbestimmung von Lehre und Forschung fördern nicht nur weniger hierarchische und verknöcherte Formen des Umgangs an Instituten. Sie gewährleisten auch nachhaltige wissenschaftliche Arbeit der forschenden, lehrenden und lernenden Individuen, ermöglichen mithin eine echte und demokratische Qualitätssicherung.

 

Wir fordern: Demokratisierung der Hochschulen, Auflösung der Lehrstühle zugunsten einer demokratisch organisierten Departmentstruktur.

 

 

7. Die Grundfinanzierung der Hochschulen stärken

 

Die schleichend erfolgte Umstellung akademischer Forschung auf Drittmittelfinanzierung wird zwar regelmäßig als Problem benannt, aber nicht effektiv bekämpft. Dabei handelt es sich um eine klare Fehlentwicklung: Drittmittelfinanzierung verstärkt Prekarität und unwürdige Abhängigkeitsverhältnisse, erschwert längerfristige Planungen, fördert Antragsfassaden und Beutegemeinschaften – und sie vergeudet Arbeitsressourcen in großem Ausmaß, da auch nicht bewilligte Anträge Zeit kosten und unnötige Bürokratie erzeugen. Diesem Kräfteverschleiß sind besonders diejenigen ausgesetzt, die sich noch „qualifizieren“ müssen und eigene Forschungsziele finden sollen. Die Finanzierung durch Verbundprojekte schränkt zudem die geforderte Eigenständigkeit der Forschung drastisch ein, und auch bei unabhängiger Förderung stimmen faktische Projektlaufzeiten selten mit den zeitlichen Erfordernissen von Qualifizierungsvorhaben überein.

Angesichts dessen müssen Bund und Länder dafür sorgen, dass Hochschulbudgets ausreichen, um kontinuierliche, freie und angemessen bezahlte Forschung und Lehre mit umfassender Betreuung der Studierenden zu gewährleisten. Wachsende Studierendenzahlen dürfen nicht länger ‚unsichtbar’ durch unbezahlte Arbeit (im Rahmen von Lehraufträgen, Titellehre und Professur-Vertretungen) und Mehrbelastung der Beschäftigten kompensiert werden. Da für ein regulär beschäftigtes akademisches Personal mit normalem Altersdurchschnitt kaum mehr Mittel nötig sind als für dauerprekarisierten „Nachwuchs“, halten sich die durch eine Entfristungsoffensive verursachten Zusatzkosten in Grenzen.

Die Aufhebung des Kooperationsverbots zwischen Bund und Ländern bietet eine wesentliche Grundlage für den nötigen Umbau. Mit der Ablösung des Hochschulpakts durch den unbefristeten  „Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken“ (ZSL) ist der Bund dauerhaft in die Grundfinanzierung der Hochschulen eingestiegen. Perspektivisch muss der Bund sicherstellen, dass diese und andere Geldern für die Schaffung wissenschafts- und studierendenfreundlicher Arbeitsverhältnisse und die Verbesserung der Betreuungsquoten genutzt werden. Das bedeutet die Schaffung von entfristeten Stellen bei gleichzeitiger Sicherstellung der Einheit von Forschung und Lehre (d.h. insbesondere keine Hochdeputatsstellen).

Darüber hinaus schlagen wir eine Umschichtung des DFG-Etats und der BMBF-Projektförderung zugunsten regulärer Budgets an den Instituten sowie eine stärkere Anbindung außeruniversitärer Forschungsinstitute an die Universitäten vor. In geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern kann diese Umschichtung einen Großteil des aktuellen Förderhaushalts umfassen; ein entsprechender Teil des DFG-Verwaltungspersonals kann dann an die Hochschulen wechseln. Eine umgekehrte Strategie besteht darin, mit Forschungsmitteln Dauerstellen in hochschulnahen Einrichtungen zu finanzieren (wie etwa im französischen Centre National de la recherche scientifique); die Kooperation von Forschungseinrichtungen wie der Helmholtz-Gemeinschaft und der Max-Planck-Gesellschaft mit Universitäten könnte in diesem Sinne weiter ausgebaut werden.

 

Wir fordern: Umstellung vom Projektbetrieb auf den Ausbau der Grundfinanzierung der Hochschulen, um freie Forschung und angemessene Betreuungsverhältnisse zu gewährleisten.

 

 

Ein Wort zu den Gegenargumenten

 

Die gängigen Argumente gegen die hier skizzierte, überfällige Reform gehen von der Annahme aus, dass abgesicherte Karrierewege die Innovationsfähigkeit und personelle Flexibilität des deutschen Hochschulsystems gefährden. Das ist nicht nur deshalb erstaunlich, weil man in anderen Ländern problemlos ohne Massenbefristung und damit systematische Prekarisierung von Wissenschaftler*innen auskommt. Die Vorstellung, dass Forschung und Lehre durch hohe Fluktuation innovativ bleiben, entbehrt darüber hinaus auch der fachlichen Logik: Daueraufgaben erfordern Dauerstellen, auf denen die in einem Bereich gewonnenen Erfahrungen produktiv eingesetzt werden können. Wissenschaftler*innen einer überdurchschnittlichen Existenzangst auszusetzen, fördert nicht Innovation, sondern Demotivation, Erschöpfung, Anpassung und die Orientierung an Forschungstrends und -moden. Gute wissenschaftliche Arbeit hingegen braucht ein Mindestmaß an Sicherheit für diejenigen, die sie ausüben, um Langfristigkeit, freies Denken und stabile Ergebnisse zu gewährleisten. Nicht zuletzt würden mit sicheren Beschäftigungsperspektiven an deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen auch die geforderte internationale Mobilität von Wissenschaftler*innen erleichtert und tatsächliche internationale Kooperation ermöglicht, statt ein für die individuelle Lebensplanung wie Qualität der wissenschaftlichen Arbeit oftmals destruktives Arbeitsnomadentum zu erzwingen.