Scheinwahrheit Nr. 9a: Natürlich kann man als Wissenschaftler:in Kinder haben. Unsere Hochschule ist als familienfreundlich zertifiziert!
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Scheinwahrheit Nr. 9a: Natürlich kann man als Wissenschaftler:in Kinder haben. Unsere Hochschule ist als familienfreundlich zertifiziert!

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Zertifizierung hin oder her: Ein Blick in die aktuellen Zahlen der Bundesregierung genügt, um die Behauptung, dass Hochschulen tatsächlich familienfreundlich seien, zu widerlegen: Hochschulabsolvent:innen „mit Kindern nehmen seltener eine Promotion auf als Hochschulabsolvent[:innen] ohne Kinder“ (BuWiN 2021, S. 143) und „obwohl der Kinderwunsch beim wissenschaftlichen Nachwuchs […] nach wie vor hoch ist, ist zu vermuten, dass insbesondere bei den Wissenschaftlerinnen ein hoher Anteil kinderlos bleibt“ (ebd., S. 163). Wer sich bei schwachen Aussichten auf einen Verbleib im Beruf von Kurzzeitvertrag zu Kurzzeitvertrag hangelt und sich dazu noch auf Teilzeitstellen mit Vollzeitpensum befindet, unter Druck, in der ‚Bestenauslese‘ zu bestehen, für den oder die ist Familiengründung ein existenzielles Risiko. Studien belegen, dass Sorgen um Weiterbeschäftigung, der Mangel an Planbarkeit, Stabilität und Kontinuität der Arbeitsverhältnisse von vielen Wissenschaftler:innen mit Kinderwunsch als belastend empfunden und als Grund für ihre Entscheidung gegen Kinder angegeben werden (vgl. ebd., S. 168). Ähnliche Ergebnisse zeigen sich bei akademischem Personal, das Pflegeaufgaben hat (siehe die Themenseite „Familienfreundliche Wissenschaft“ der GESIS/des Kompetenzzentrums Frauen in Wissenschaft und Forschung). Angesichts des negativen Bilds der Hochschulen in Bezug auf Familienfreundlichkeit, das Wissenschaftler:innen in Erhebungen zeichnen (etwa ein Drittel gibt an, Diskriminierung aufgrund von Elternschaft erlebt zu haben, selbst erfahren haben sie 17 Prozent der Frauen und 6 Prozent der Männer, vgl. Gottburgsen/Willige/Sembritzki, Vereinbarkeit), fällt es überaus schwer, das Prädikat „familienfreundlich“ an Hochschulen ernst zu nehmen. Bundesweit einheitliche Kriterien hierfür gibt es aber kaum, entsprechend abhängig sind Angestellte von individuellen Angeboten. Vor allem Frauen in der Wissenschaft fühlen sich oft gezwungen, ihren Kinderwunsch (oder eben die Karriere) hintanzustellen. So geben besonders Professorinnen an, dass die negativen Arbeitsbedingungen der Grund für ihre Kinderlosigkeit sind (vgl. die Broschüre des BMBF, Kinder – Wunsch und Wirklichkeit in der Wissenschaft). Nur jede dritte bis fünfte Professorin, aber mehr als jeder zweite Professor hat ein oder mehrere Kinder (vgl. Lind, Kinderwünsche; Metz-Göckel/Selent/Schürmann, Integration). Dies liegt einerseits sicherlich daran, dass Care-Arbeit aufgrund gesellschaftlicher Zuschreibungen mehrheitlich von Frauen getragen wird; ein weiterer offensichtlicher Grund liegt darin, dass Frauen – angesichts eines Erstberufungsalters von 41,7 (W2) bzw. 43,2 (W3) Jahren, der in der Regel früheste Zeitpunkt, der Prekarität zu entkommen – mit Blick auf ihre biologische Uhr deutlich schlechtere Aussichten haben, ihrer zu gründenden Familie sichere Verhältnisse zu bieten. Das deutsche Wissenschaftssystem verhält sich in all seiner offensichtlichen Familienunfreundlichkeit also Frauen gegenüber außerdem noch diskriminierend.

 

Auch die Versuche, diesem Problem durch die familienpolitische Komponente zu begegnen oder durch die Verlängerung der Tenure Track-Phase gegenzusteuern, müssen als gescheitert betrachtet werden (vgl. Sommer/Jongmanns/Book/Rennert, Evaluation, S. 130ff.; van Riesen, Verhältnis). Die zitierten Zahlen zeigen, dass das Prädikat „familienfreundlich“ viel mit dem Wunsch der Hochschulen nach zertifizierter Selbstdarstellung, aber wenig mit der gelebten Realität zu tun hat. Hier sei auch an diejenigen Wissenschaftler:innen erinnert, die aufgrund ihrer Arbeitsbedingungen erst gar nicht in den Genuss der Einzelangebote der sogenannten „familienfreundlichen Hochschule“ gelangen. Denn nicht jede:r befindet sich in einem Anstellungsverhältnis (vgl. Scheinwahrheit 6c): Lehrbeauftragte oder Promovierende, die ein Stipendium beziehen, sind von solchen institutionellen Angeboten ausgeschlossen.

 

Literatur:
– Bundesbericht wissenschaftlicher Nachwuchs, Statistische Daten und Forschungsbefunde zu Promovierenden und Promovierten in Deutschland, hrsg. vom Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs, Bielefeld 2021, https://www.buwin.de/buwin-2021. [zu Kinderwunsch und Familienplanung].
– Gottburgsen, Anja, Willige, Janka und Thorben Sembritzki, Vereinbarkeit von Wissenschaft und Familienaufgaben an Hamburger Hochschulen. Gesamtbericht, Hannover 2021, https://www.hamburg.de/contentblob/15814628/0e75d510eeccd398ea5be736b4cd39da/data/studie-vereinbarkeit-wissenschaft-und-familie.pdf
– Lind, Inken: Aufgeschobene Kinderwünsche, eingeschränkte Perspektiven? Zur Vereinbarkeit von Wissenschaft und Elternschaft – Ergebnisse einer aktuellen Studie, in: Forschung & Lehre 15: 11 (2008), S. 754–756.
– Metz-Göckel, Sigrid, Selent, Petra und Ramona Schürmann, Integration und Selektion. Dem Dropout von Wissenschaftlerinnen auf der Spur, in: Beiträge zur Hochschulforschung, 32:1 (2010), S. 8–35, https://www.bzh.bayern.de/uploads/media/1-2010-metz-goeckel-selent-schuermann.pdf
– van Riesen, Kathrin, Zum Verhältnis von Familien- und Gleichstellungspolitiken – oder wer profitiert eigentlich von geschlechterneutralen Familienpolitiken?, in: CEWS Journal 119 (2019), S. 40–44, https://www.gesis.org/fileadmin/cews/www/CEWSjournal/CEWS-journal119.pdf
– Sommer, Jörn, Jongmanns, Georg, Book, Astrid und Christian Rennert, Evaluation des novellierten Wissenschaftszeitvertragsgesetz, Berlin/Hannover 2022, https://www.bmbf.de/SharedDocs/Downloads/de/2022/abschlussbericht-evaluation-wisszeitvg.html

 

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