Scheinwahrheit Nr. 7a: Die Leute kannten ihr Risiko, als sie die prekären Jobs angenommen haben. Dann sollen sie sich im Nachhinein nicht beschweren.
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Scheinwahrheit Nr. 7a: Die Leute kannten ihr Risiko, als sie die prekären Jobs angenommen haben. Dann sollen sie sich im Nachhinein nicht beschweren.

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Diese Aussage folgt dem Grundmuster der Individualisierung systemisch generierter Probleme. Sie entzieht sich so der Frage nach der Verantwortung für die Gestaltung guter Arbeitsbedingungen. Es bräuchte aber eine ethische Begründung dafür, warum es legitim wäre, die Betroffenen diesem Risiko überhaupt kollektiv auszusetzen – oder, in anderen Worten , den Wissenschaftsbetrieb nach dem Modell des russischen Roulettes zu gestalten. Die Behauptung ignoriert, dass das gegebene Risiko durch politische und soziale Machtstrukturen erzeugt ist, und unterstellt stattdessen, die Situation sei naturgegeben. So setzt man voraus, was zu begründen ist, nämlich weshalb eigentlich Wissenschaftskarrieren ein rat race sein sollten, dem die Betroffenen ihr Mindset anzupassen hätten (vgl. auch Scheinwahrheit 1c). Warum wird nicht vielmehr die Frage gestellt, welche Bedingungen dafür zu bieten wären, dass Potenziale sich überhaupt entfalten ließen, statt sie zu verheizen? Und wäre die Behauptung richtig, dann müssten die Betroffenen letztlich sogar die Kreativität antizipieren, mit der Universitätsverwaltungen gesetzlich gegebene Möglichkeiten zur Befristung ungeniert gegen sie auslegen (etwa, indem sie Mitarbeitende die Qualifikationsziele, die ihre Befristung rechtfertigen, selbst erfinden lassen).

 

„Man garantiert ja auch nicht jedem Teilnehmer beim Hawaii-Marathon beim Start, dass er als Erster durchs Ziel läuft.“

Dieter Kaufmann, Kanzler der Uni Ulm, SZ-Interview vom 24. Oktober 2019

 

Wenn das Risiko einschätzbar sein sollte, müsste es zudem für alle in etwa gleich groß sein. Das ist objektiv keineswegs der Fall: Finanzielle und habituelle Ressourcen, ggf. auch das passende Geschlecht oder die passende Hautfarbe minimieren es für die einen und maximieren es für die anderen (vgl. auch Scheinwahrheit 3b). So verstanden, liefe die Behauptung sogar darauf hinaus, dass benachteiligte Gruppen angesichts ihres erwartbar höheren Risikos besser gleich ihren Selbstausschluss betreiben sollten.

 

Zugleich tut das System viel dafür, denen, die eintreten, die Gegebenheiten zu verschleiern. Das Argument funktioniert allenfalls als retrospektive Behauptung. Der Lebensrealität entspricht es nicht: In der Regel kennt man nach dem Studium das Hochschulsystem aus Studierendensicht und nicht aus der Sicht der Arbeitnehmer:innen. Oft werden Studierende von Professor:innen, bei denen sie zunächst als SHK oder Tutor:in beschäftigt wurden, ermutigt, eine wissenschaftliche Karriere zu versuchen. Durch zahlreiche verfügbare Einstiegsstellen werden Anreize gesetzt. Die Hochschule scheint junge Leute zu brauchen. Zunächst machen sie die Erfahrung, dass es „irgendwie weitergeht“.

 

„Klar sollten Sie weitermachen, wenn Sie für die Wissenschaft brennen, aber halten Sie die Augen offen, ‚bench-marken‘ Sie sich im Vergleich zu Ihren Peers […] – statt darauf zu hoffen, dass am Ende irgendwie eine sichere Stelle da sein wird.“

Reinhard Jahn, 2019 bis 2021 Präsident der Universität Göttingen, 12.8.21, „Was bei Hanna durcheinandergeht“

 

Wissenschaftler:innen in fortgeschrittenen, aber immer noch prekären Qualifikationsphasen machen schließlich die paradoxe Erfahrung, dass sie sich einen Namen erarbeitet haben und bestimmte Themen vertreten. Doch während die Anerkennung durch die Fachcommunity steigt, besteht keine Korrelation zwischen zu der de facto sinkenden Anerkennung durch die Institutionen, in denen sie arbeiten. Gerade weil beides so sehr auseinandertritt („C4 oder Hartz 4“), wird den Betreffenden mit der Erwartung an eine „realistische“ Selbsteinschätzung eine inkonsistente Selbstentwertung abverlangt. Eine Möglichkeit, den Zeitpunkt vorherzusehen, an dem man keinen Job mehr bekommt, weil man als ungeeignet  gilt, besteht nicht.

 

Schließlich steht der Vorwurf mangelnder Risikoeinschätzung auch insofern auf tönernen Füßen, als es nicht zwingend weniger risikoreich sein muss, sich für einen anderen als den der eigenen Qualifikation entsprechenden Berufsweg zu entscheiden.

 

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