Scheinwahrheit Nr. 3c: Es werden doch auch in Deutschland jetzt vermehrt Tenure-Track-Professuren geschaffen – und wer sich beweist, wird auch übernommen.
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Scheinwahrheit Nr. 3c: Es werden doch auch in Deutschland jetzt vermehrt Tenure-Track-Professuren geschaffen – und wer sich beweist, wird auch übernommen.

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Tatsächlich hat das Tenure-Track-Programm zum Ziel, wissenschaftliche Karrieren planbarer und transparenter zu machen, sowie mehr Frauen in das Hochschulsystem zu integrieren. Es wurde von der Novellierung des Hochschulrahmengesetzes im Jahr 2002 an aus dem US-amerikanischen Wissenschaftssystem in das deutsche übernommen und beinhaltet in seiner Reinform auch die Zusage einer Lebenszeitprofessur, wenn eine befristete Probezeit in einer Juniorprofessur erfolgreich abgeschlossen wurde. Der Deutsche Hochschulverband (DHV) unterscheidet allerdings zwischen „echtem“ (verbindliche Chance auf eine Lebenszeitprofessur bei positiver Evaluation) und „unechtem“ Tenure Track (unverbindliche Chance auf Entfristung, vgl. DHV, Pressemitteilung, 2018). Dem statistischen Bundesamt zufolge hatten 2019 etwa 1.500 Wissenschaftler:innen in Deutschland Juniorprofessuren inne. Tatsächlich waren 2007 nur 8% mit einem „echten“ Tenure Track ausgestattet (vgl. Federkeil/Buch, Juniorprofessur) – mit anderen Worten: Für 92% der Juniorprofessor:innen bestand kein echter Tenure Track. Bei einem Großteil ist also – ganz unabhängig davon, ob und welche Leistungen dafür erbracht werden – eine Weiterbeschäftigung gar nicht vorgesehen (vgl. Nickel, Tenure Track-Professur, S. 54). Fächerübergreifende, aktuelle Zahlen fehlen (vgl. BuWiN 2021, S. 92). Zahlen aus ausgewählten Fächern zeigen allerdings eine nach wie vor übergroße Mehrheit von Juniorprofessuren ohne Tenure Track (vgl. ebd., S. 197). Dass das Tenure Track-Programm des Bundes (= 1.000 Stellen) hier Abhilfe schafft, ist nicht zu erwarten; selbst im Fall einer (derzeit diskutierten) Aufstockung bliebe es viel zu klein, um einen Systemwandel im Sinn einer nachhaltigen Personalstruktur anzuschieben. Darüber hinaus ist derzeit zu beobachten, dass an den Hochschulen immer mehr W2-Professuren befristet werden – mögliche positive Effekte eines Tenure-Track-Programms werden durch diese der Entfristung gegenläufige Dynamik konterkariert.

 

Nicht zuletzt ist festzustellen, dass durch die Tenure Track-Verfahren gerade keine neuen Professuren entstehen, sondern sie lediglich als Verfahren zur Besetzung bereits bestehender Professuren eingesetzt werden.

Die meisten Hochschulen haben schon den nächsten Schritt vollzogen und sind dabei, den Tenure Track in den Alltag zu überführen. Das erlaubt es, Berufungen auf wiederzubesetzende Professuren in jedem Fach langfristig vorzubereiten. […] Wer entsprechende Leistungen in Forschung, Lehre, Mentorierung und akademischer Selbstverwaltung erbringt, wird nach sechs Jahren auf die dann freie Dauerprofessur berufen.“

Peter-André Alt, FAZ, 16.06.2022, „Der Umbruch ist längst da“

 

Die Hochschulen interpretieren damit das Programm des Bundes um, der es eigentlich als Anschubfinanzierung für die Schaffung neuer Professuren entwickelt hatte. Stimmen aus dem Hochschulmanagement, die immer wieder eine vermeintlich zu hohe Übernahmequote beim Tenure Track monieren (vgl. etwa Kronthaler, Nur die Besten, 2021), lassen zudem befürchten, dass er selbst bei einer breiten Implementierung nur dazu genutzt würde, Karrieren weiterhin unsicher zu gestalten.

 

Individuell setzen Juniorprofessuren Beschäftigte zudem insofern unter Druck, als die Voraussetzungen dafür oft denen einer Professur gleichen. Wer sich also nach jahrelanger Befristung in der Promotions- und Postdoc-Zeit für eine Juniorprofessur qualifiziert hat, stellt sich für bis zu sechs weitere Jahre einer erneuten Bewährungsprobe, wird fortlaufend evaluiert und bewertet und bleibt trotzdem in Unsicherheit darüber, wie es nach Ablauf der Befristung weitergeht. Außerdem haben Juniorprofessor:innen in der Regel keinen Anspruch auf Sekretariatsanteile, auch die Ausstattung mit Sachmitteln (für bspw. Arbeitsgeräte) ist oft nicht gegeben. Die Besoldung ist meist unter dem vergleichbaren privatwirtschaftlichen Niveau. Vorerst bleibt das Modell Juniorprofessur also nur die Weiterführung einer Personalpolitik, die auf Unsicherheit und Unterfinanzierung beruht.

Blickt man unter einem klassenspezifischen Gesichtspunkt darauf, fällt die besondere soziale Selektivität in dieser Statusgruppe auf: „Juniorprofessorinnen und -professoren stammen zu insgesamt 62 % aus der höchsten, zu 24 % aus der gehobenen und lediglich zu je 7 % aus der niedrigen und mittleren Herkunftsgruppe“ (Möller, Herkunft, S. 238). Das vergleichsweise größere Prestige der Juniorprofessuren in Kombination mit einem hohen Anforderungsprofil und trotzdem prekärem Status impliziert also weder besonders gute Arbeitsbedingungen, noch führt es zu einer wünschenswerten Form von Personalauswahl. Insgesamt spricht wenig dafür, dass das Modell der Tenure-Track-Professuren dazu führen wird, die mit dem wissenschaftlichen Berufsfeld verbundene Unsicherheit – insbesondere für ohnehin schon benachteiligte Gruppen – aufzuheben.

 

Literatur:
– Bundesbericht wissenschaftlicher Nachwuchs, Statistische Daten und Forschungsbefunde zu Promovierenden und Promovierten in Deutschland, hrsg. vom Konsortium Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs, Bielefeld 2021, https://www.buwin.de/buwin-2021. [zu aktuellen Zahlen zu Juniorprofessuren]

– Deutscher Hochschulverband, Pressemitteilung und Positionspapier zu Tenure Track 2018, https://www.hochschulverband.de/aktuelles-termine/mehr-wahrheit-und-klarheit [zur Unterscheidung von echtem und unechtem Tenure Track]

– Federkeil, Gero und Florian Buch, Fünf Jahre Juniorprofessur– Zweite CHE-Befragung zum Stand der Einführung, https://www.wissenschaftsmanagement-online.de/sites/www.wissenschaftsmanagement-online.de/files/migrated_wimoarticle/CHE_Juniorprofessur_Befragung_AP_90.pdf [Daten und Auswertung des Statistischen Bundesamtes zur Zahl der Juniorprofessuren mit „echtem“ Tenure Track]

– Kronthaler, Ludwig, Nur die Besten sollen bleiben, in: FAZ, 18.11.2021, https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/akademischer-mittelbau-soziale-misere-an-deutschen-hochschulen-17636344.html [über zu hohe Übernahmequoten bei Tenure Track-Juniorprofessuren]

– Möller, Christina, Herkunft zählt (fast) immer: soziale Ungleichheiten unter Universitätsprofessor:innen, Weinheim/Basel 2015 [zur sozialen Selektivität der Statusgruppe der Juniorprofessor:innen]

– Nickel, Sigrun, Tenure Track-Professur. Kontroverse um neue Stellenkategorie, in: wissenschaftsmanagement 1 (2016), S. 54–55, https://expydoc.com/doc/9752019/tenure-track-professur—centrum-f%C3%BCr-hochschulentwicklung [zum Umstand, dass bei den meisten Juniorprofessuren keine Weiterbeschäftigung vorgesehen ist]

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